Träume in Worthülsen

Peter-André Alts Arbeit über Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Jean Paul ist der Traum mindestens so eindrücklich wie das Wachen: "Der Schlaf verbirgt die erste Welt und ihre Nächte und Wunden - und zeigt uns eine zweite, und die Gestalten, die wir liebten und verloren, und Szenen, die zu groß für die kleine Erde sind." Und deshalb lassen sie sich auch nicht so einfach mitteilen - der Traum bleibt eine ganz individuelle Erfahrung. "Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu", umschreibt Heraklit den Umstand.

Folglich konnte und kann nicht über die nächtlichen Szenerien selbst, sondern nur über die verschriftlichte Art des Traumes diskutiert werden. Was auf diesem Wege Eingang in die Literatur gefunden hat, bildet den Gegenstand der umfangreichen Studie des Würzburger Germanisten Peter-André Alt. "Wenn Sinn nur im aktuellen Vollzug von Kommunikationsvorgängen denkbar ist, so heißt das, daß der Traum Bedeutung allein durch seine sprachliche Darstellung empfängt", lautet seine methodische Prämisse in den Worten des Gewährsmannes Luhmann. Wissenschaftlich legitim und ertragreich wird der Zugang zum Traum von seiner sprachlichen Darstellung her durch die strukturelle Verwandschaft von Traum und literarischer Fiktion: "Durch ihre Fähigkeit, Wirklichkeit zu transzendieren, lassen sich Poesie und Traum miteinander vergleichen." Beide stützen sich auf die Imagination, deren Bilder der Dichter in Fiktion überführt - Bilder, die nach der in der Frühen Neuzeit noch geltenden Wissenschaft, auch für die nächtlichen Traumgesichte verantwortlich sind.

Diese (Frühe) Neuzeit ist das Herz oder der Bauch von Alts Studie, doch bringt es das Sujet mit sich, dass er zu ihrer Erhellung eine Unmenge von Quellen von den Vorsokratikern bis Thomas Mann zusammengetragen hat. Wichtig für das Messen der literarischen Umsetzung an den geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Traum ist natürlich der Rückgriff auf die umfangreiche Traumliteratur der Antike. Dort entspannt sich beispielsweise der grundlegende Streit über eine mögliche überirdische Bedeutung des Geträumten - Platon hält derartige Visionen für möglich, Aristoteles bestreitet dies. Nachhaltigere Wirkung erzielten aber sogenannte "Traumbücher" wie das ,Oneirokritikon' Artemidors, die kategorische Einteilungen verschiedener Traum-Arten vornehmen.

Im 17. Jahrhundert gelten diese noch immer. Wenn Robert Burton 1621 zwischen natürlichen, göttlichen und dämonischen Träumen unterscheidet, folgt er der Einteilung Tertullians aus dem frühen dritten Jahrhundert. Er bestätigt Platons Vorstellung eines übernatürlichen Traumes und subsummiert alle anderen Träume unter die "natürlichen". Diese verdanken ihre Entstehung der Erhitzung der Körpersäfte oder einer zu reichhaltigen Ernährung. Dann steigen Verdauungsgase bis in Gehirn auf und bringen dort die, in der Gedächtniskammer gespeicherten, Bilder durcheinander. Bedeutungsvoller in den Augen der Schreibenden waren jedoch die nicht-natürlichen Träume, mittels derer der Mensch Einblick in tiefere Weisheit erlangen konnte. Es öffnet sich ein "Welttheater der Seele".

Der wissenschaftliche Ertrag dieser Arbeit liegt sicher in der Gegenüberstellung konträren Traumwissens in verschiedenen Epochen der Neuzeit. So stand die nächtliche, noch für Shakespeare ungeheuer wichtige Quelle literarischer Bilder zu Zeiten der Aufklärung natürlich unter Generalverdacht. Der totale Mangel an wichtigen Kategorien wie "Vernunft" und "Urteil" schien den Traum bereits ausreichend zu charakterisieren. Leicht vorstellbar, wie genau dies dann in der Romantik wieder gegen die Aufklärer gewandt wurde.

Doch leider wird außer eingefleischten Adepten der universitären Wissenschaften kaum jemand seine Freude an dem Buch haben. Das liegt zum einen am Fehlen einer übergreifenden These, die ein roter Faden zwischen den zwar zahlreichen, aber nicht sehr detailliert behandelten Textbeispielen hätte sein können. Die Sprache, derer Alt sich bedient, scheint darüber hinaus für eine "interessierte Öffentlichkeit" nichts übrig zu haben. Mag auch ein weniger gängiges Fremdwort oder eine etwas verquere Satzkonstruktion mal um der Sache willen zurecht gewählt werden - hier wird des Guten zu viel getan. Fazit: Fachpublikation. Nur für Fachpublikum.

Titelbild

Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
464 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406493378

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