Einmal Hunsrück und zurück

Simon Werles Roman "Der Schnee der Jahre"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1937 im verschlafenen (fiktiven) Hunsrück-Dorf Hainitz. Der Protagonist Edward ist ein unauffälliger, handwerklich begabter und sportlich talentierter Schüler, der allsonntäglich als Messdiener seiner "Katholikenpflicht" nachgeht. Umso größer ist das Entsetzen bei seiner zur Frömmigkeit neigenden Mutter Kätt, als er eines Tages der Messe fern bleibt und erst nach bohrenden Fragen seiner Eltern mit dem Grund heraus rückt. Pfarrer Solbroich hat Edward geschlagen. Von seinem Vater moralisch unterstützt, bleibt er fortan der Kirche fern.

Simon Werle hat sich literarisch aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück bewegt. In seiner 1999 erschienenen Erzählung "Abendregen" setzte er sich mit den damals schon virulenten Auswirkungen des Multimedia-Zeitalters auf die heranwachsende Generation auseinander. Nun hat sich der 45-jährige gebürtige Saarländer einem opulenten Stoff gewidmet, der zugleich Entwicklungsroman, Familienepos und Regionalpanorama sein möchte. Man fühlt sich ein wenig an die Romane seines "Landsmannes" Ludwig Harig und an Edgar Reitz' verfilmte "Heimat"-Chronik erinnert.

In einem kleinen Provinznest der 30er Jahre mit seinen festgefügten hierarchischen Strukturen ist dieser Affront beinahe schon ein handfester Skandal. Da hätte es nicht der kommentierenden Einschübe des Autors bedurft: "Die Dinge und Verhältnisse in Hainitz sind klein und umrahmen die Schicksale seiner Bewohner mit dem Schmuck der Überschaubarkeit." Die Leute kennen einander, nichts bleibt geheim: weder das beinahe missionarische Werben des Ortsgruppenleiters Tschudries noch Edwards erste heimliche, aber unerwiderte Liebe zu Diemut Viereck, die bereits eine Liaison hat mit dem vier Jahre älteren, karrierebesessenen Parteimitglied Holger. Über Diemuts Vater heißt es: "Eberhard Viereck ist ein pedantischer, oft mürrischer Mann, Eisenbahner und Nebenerwerbslandwirt, dem keine seiner beiden Berufstätigkeiten zur Freude gereicht, was seine starke Anlage zum Jähzorn nicht mildert." Edward ist stur, hat schon als Jugendlicher seine eigenen Vorstellungen vom Leben - zum Leidwesen seiner aus "besseren Kreisen" stammenden Mutter kann er mit Musik und Büchern nichts anfangen. Auch die nach der Schule angefangene Ausbildung beim benachbarten Schreiner Taubroed erfüllt ihn nicht, so dass er früh seine Zelte in der Provinz abbricht und nach Köln zieht. Im historischen Kontext der 30er Jahre hätte Autor Simon Werle allerdings von der Volksschule und nicht von der Hauptschule (wurde erst Mitte der 60er Jahre eingeführt) schreiben müssen.

Dann überstürzen sich in der mondänen Welt am Rhein die Ereignisse. Edward wird eingezogen und kehrt 1944 als "Kriegsinvalide mit 80-prozentiger Erwerbsunfähigkeit" in sein Heimatdorf zurück - von einem Granatsplitter am Kopf getroffen, allen Illusionen und Perspektiven beraubt. In einem nahen Steinbruch hilft er aus, aber immer wieder wird er von Absenzen heimgesucht und muss der Kriegsverletzung Tribut zollen. Edward lernt die junge Brieg kennen, die ihn über den Tod der Jugendliebe Diemut hinweg tröstet und ins Haus seiner Eltern einzieht. Zwei Kinder kommen zur Welt, dennoch gibt es kein glückliches Ende in dieser von den politischen Wirren der Zeit bestimmten Handlung. Am Ende enttäuscht der als Übersetzer mehrfach ausgezeichnete Simon Werlemit seinem Roman.

Titelbild

Simon Werle: Der Schnee der Jahre. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2003.
443 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3312003148

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