Das politische System des anderen Deutschlands

Das Handbuch "Parteien und Organisationen der DDR” informiert über das ostdeutsche Gesellschaftssystem von 1945 bis 1990

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vierzigjährige Geschichte der DDR ist heute seltsam fern. Der "erste sozialistische Staat auf deutschem Boden", wie man sich gerne und stolz bezeichnete, ist ein ,Verlierer der Geschichte'. "Das Kürzel DDR" erscheint als eine Kuriosität, ausgestattet mit solch kruden Absonderlichkeiten wie das "realsozialistische Kadernomenklatursystem" zur Steuerung personeller Entscheidungen "in allen Bereichen der Gesellschaft". Die kurze Zeit des demokratischen Aufbruchs nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes reichte nicht aus, um ein neues Gesellschaftsmodell aufzubauen. In merkwürdiger Hast waren stattdessen die Vertreter der in Auflösung begriffenen alten DDR sowie ihre Verhandlungspartner aus der "BRD" bemüht, den Staat endgültig abzuwickeln. Am 31. August 1990 wurde der Einigungsvertrag unterzeichnet. Zwei Monate später trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei.

Diese solide Verdrängungsleistung erstaunt. Lebten denn nicht 16 Millionen Menschen in diesem Staat? Waren sie in ihrem Lebensalltag nicht auf vielfältige Art und Weise in ein komplexes politisch-soziales System integriert, organisiert und aktiv? Wer freilich mit diesem System als Normalbürger seine Kompromisse geschlossen hatte, hat ,als Verlierer' kaum Anlaß sich dieser Arrangements selbstbewusst zu erinnern. Und wer unter dem Regime zu leiden hatte, hat ein anderes Aufklärungsinteresse: Im Zentrum steht der Unrechtscharakter des Regimes. So berechtigt dieses Interpretationsprimat auch ist, so unvollkommen ist es. Der Normalzustand DDR ist nicht mehr greifbar.

"Zum Normalszustand der DDR" gehörten jene Parteien und Organisationen neben der SED, die als "Blockparteien" und "Transmissionsriemen der Partei" eine ganz spezielle Aufgabe im Gesellschaftsgefüge der DDR hatten. Diesen Parteien und Organisationen hat nun ein Team, das bereits 1997 ein SED-Handbuch herausgegeben hat, ein umfangreiches Nachschlagewerk gewidmet. Das Handbuch über die mit der SED "verbündeten" Blockparteien, die Massenorganisationen sowie anderen Verbände und Vereine ist ein ehrgeiziges Informationsunternehmen, das auch die während der kurzen Phase demokratischer Blüte 1989/1990 entstandenen (neuen) Parteien und politischen Gruppierungen aufführt. Beeindruckend ist die "Übersicht über die Leitungsgremien und Biographien der Führungskader der Parteien und Organisationen", in der u. a. nahezu 1.000 Kurzbiographien zusammengetragen wurden. Neben der in dieser Form wohl einzigartigen Zusammenstellung sind in einem Dokumententeil 50 Grundsatzdokumente "zur Entwicklung der Parteien und Organisationen im politischen System der SBZ und DDR" bereitgestellt. Die Sammlung beginnt mit dem berühmten SMAD-Befehl Nr. 2, mit dem die sowjetische Besatzungsmacht schon am 10. Juni 1945 in ihrer Zone die Gründung von politischen Parteien erlaubte, und endet mit dem Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des zentralen Runden Tisches vom 12. März 1990.

Zu den Hauptaufgaben der neben der SED im demokratischen Block ("Blockparteien") zusammengefaßten Parteien CDU (Christlich-Demokratische Union), LDPD (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands), DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands), NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) sowie der 80 gesellschaftlichen Organisationen zählten die "Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte und des ökonomischen Potentials für den Aufbau des Sozialismus", die "Transmission" der SED-Politik in bestimmte gesellschaftliche Milieus und schließlich die "Kontrolle und Kanalisierung potentiell oppositioneller Strömungen". Die Verwirklichung dieser Planvorgaben wird in jeweils einzelnen Artikeln zu den Parteien und Organisationen weitgehend kenntnisreich, übersichtlich und mit neuen Fakten geschildert. Die Autoren kommen dabei aber kaum zu grundlegend neuen Erkenntnissen. Vielmehr belegen ihre Darstellungen wie präzise und kenntnisreich der relativ kleine Forschungsbereich DDR in der Bundesrepublik trotz begrenzter Informationsmöglichkeiten bereits vor 1989 sein Fach beherrschte.

Das gilt auch für die Betrachtung der wichtigen gesellschaftlichen Massenorganisationen, zu denen beispielsweise der Kulturbund, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) gehörten. Aus heutiger Sicht erstaunen die hohen Mitgliederzahlen dieser teilweise auch im Parlament der DDR, der Nationalen Volkskammer, vertretenen Organisationen. Doch eine Erklärung liegt auf der Hand: Die Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen war "nützlich" in zweierlei Hinsicht: zum einen bewies sie ein Mindestmaß an von der SED gefordertem "gesellschaftlichem Engagement"; zum anderen stellten die Organisationen unentbehrliche Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung. So war etwa der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) größter Urlaubsanbieter in der DDR.

Die Fülle der Informationen sagt indes noch nichts aus über das tatsächliche Alltagsleben in und mit den gesellschaftlichen Organisationen. Genau hier werden denn auch die Grenzen eines Handbuchunternehmens deutlich, das sich in der Hauptsache auf die Beschreibung des "politischen Systems" konzentriert. Diese ,konservativ-deskriptive' Herangehensweise erlaubt nur andeutungsweise den Blick in die "Nischen" des Systems oder gar über das System hinaus. So boten beispielsweise die vielen Klub- und Kulturhäuser des Kulturbundes einen eigenen Raum für Gesprächskreise, in denen sich im Laufe der Zeit eine emanzipierte Diskussionskultur entwickeln konnte, die als untergründige Strömung ihren Anteil an der politischen Wende hatte. Gänzlich unbeleuchtet bleibt, wie sich gesellschaftliches Leben außerhalb der Parteien und Organisationen entwickelte. Die von Beginn an wirkende ,Kirchenkultur' wird ebensowenig betrachtet wie die vor allem in den späten Jahren der Republik bedeutsame Jugendkultur. Der sich hier ausbildende Nonkonformismus war der SED in allen Erscheinungen ein Dorn im Auge, weil sie das wohlorganisierte Beteiligungs- und Kontrollsystem zu unterlaufen drohten. ,Peinliche' Realitäten wie das stetige Anwachsen einer rechten Szene seit den 70er Jahren passten nicht in das System und wurden offiziell verdrängt oder verleugnet. Sie belegen aber die ,real existierenden' Widersprüche im politisch-gesellschaftlichen Plansystem der DDR, die schließlich zu seinem Ende führten.

Titelbild

Gerd-Rüdiger Stephan / Andreas Herbst / Christine Krauss (Hg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch.
Karl Dietz Verlag, Berlin 2002.
1488 Seiten, 70,00 EUR.
ISBN-10: 3320019880

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