Hiob in der Neuen Welt

Dara Horns komplexer Roman über Erinnerung und Vergessen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Grund des New Yorker Hafens rottet ein ungeheurer Haufen Lederriemen vor sich hin. Wie ein seltsames Pendant wirkt er zu den Haufen von Koffern, von Brillen, von Schuhen und Haaren in den KZs. Was hier Spur der Vernichtungsindustrie, das ist dort zwiespältiges Zeichen von Hoffnung und von Abkehr. Die Amerikanerin Dara Horn erzählt in ihrem Debüt, wie Abertausende jüdischer Einwanderer, als sie das gelobte Land Amerika anliefen, ihre Gebetsriemen (die Tefillin) über die Reling der Einwandererschiffe warfen: "Weil die Tefillin zur Alten Welt gehörten, hier in der Neuen Welt brauchten sie sie nicht mehr." Und entspricht diese Scheidungsgeste nicht dem über Jahrhunderte zelebrierten Verlobungsritual, bei dem Venedigs Dogen jährlich am San-Marco-Tag dem Wasser der Lagune kostbare Ringe zum Zeichen des Bundes überließen? In Venedig wiederum entstand mit dem "Getto" das erste isolierende Quartier für Juden in Europa, quasi der Auftakt für ihre Aussonderung. 1492 war ein besonders schreckliches Jahr der Diskriminierung und Vertreibung, in dem alle spanischen Juden das Land verlassen mussten; es war gleichzeitig das Entdeckungsjahr der Neuen Welt, wo heute mehr Juden leben als in Israel.

Von Dara Horns Roman "Ausgelöscht sei der Tag" angeregt, erkennt man plötzlich viele solche Verbindungen zwischen Ländern, Geschehnissen, Menschen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Denn ihre beiden Hauptpersonen zeichnet eine eigenartige Wahrnehmungsfähigkeit aus, sie sehen um sich herum die Ereignisse, das Leben und die Geschichte nicht als Kontinuum, sondern als Folge vieler Einzelbilder. Auf diese Weise fallen sie aus dem normalen Dasein heraus, werden aufmerksam auf das Kuriose, das Ungewöhnliche und Vereinzelte, damit aber auch auf unzählige Relationen zwischen dem Randständigen und dem Gewöhnlichen.

Ein Todesfall führt die Jugendliche Leora mit dem alten Bill Landsmann zusammen, einem Weltreisenden mit dokumentarischer Manie: Seit Jahrzehnten besucht er Stätten jüdischen Lebens in allen Ländern der Erde und dokumentiert dessen Spuren auf Tausenden von Dias. Ein Hurrikan wird sie am Ende des Buches fast vollständig vernichten. Leora hingegen wird als Journalistin auf die Tefillin stoßen und durch die Beschäftigung mit den Gebetsriemen tief in die jüdische Geschichte hineingezogen werden. Dazwischen führt Dara Horn in komplexer, an filmischer Erzähltechnik geschulter Schreibweise vor, wie eng fast alles in der Welt durch historische, religiöse, familiäre, sachliche Verbindungen verknüpft ist, wie Vergessenes wieder auftaucht, wiederbelebt werden kann, wie Erinnerung Überleben stiftet. Selbst ein mäßig aufmerksamer Leser wird Horns Methode nicht übersehen können, mit der sie Parallelen, Spiegelungen, Tangenten konstruiert. Als eindrucksvolles, leider manchmal überdeutliches Exemplum dient ihr die verschlungene Geschichte der Familie Landsmann. Zwischen ihren Mitgliedern schaffen - über Länder und Zeiten hinweg - Charaktereigenschaften und Ticks Korrespondenzen. Geräusche, Tätigkeiten, Dinge wiederholen sich in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Darüber hinaus lässt Horn verschiedene Personen dieselben Szenen sehen und mit denselben Worten beschreiben, Leora geht sogar zwei Generationen später dieselben Wege wie vor ihr Bill Landsmann.

Das so entscheidende wie sinnreiche Dingsymbol für diese Allverbundenheit fand Horn mit den Tefillin im New Yorker Hafen. Nach über hundert Jahren tauchen einige, zufällig erhaltene wieder auf, landen bei einem Antiquitätenhändler. Sie wirken als zarte Bande zwischen Leora und dem Historiker Jake und verknüpfen deren Geschichte mit der von Bill Landsmann. Zusätzlich dienen sie als Bindeglied zwischen der säkularisierten Welt der Gegenwart und der religiös-rituellen der Vergangenheit. Zuletzt konfrontieren sie die Figuren mit der Gottesfrage; nicht umsonst stammt der deutsche Titel von "Ausgelöscht sei der Tag" aus dem altestamentarischen Buch "Hiob", das sich als grundlegend für diesen Roman erweist. Das vorletzte Kapitel, vielleicht der Höhepunkt, ist sogar eine Variante darauf, es heißt "Das Buch Hurrikan Hiob".

Allein schon wegen der Figuren, mehr noch wegen der bestimmenden Themen - Leiden, Trauer, Erinnerung, Ringen mit Gott - kann man von dem Roman als von einem spezifisch jüdischen Werk sprechen, sind sie doch, wiewohl von tiefer allgemeiner Bedeutung, für die jüdische Religion und Geschichte geradezu konstitutiv. Dara Horn, die mit den Schwerpunkten Jiddisch und Hebräisch promovierte Journalistin, lotet die Abgründe dieser Themen aus, indem sie das Schicksal der Familie Landsmann über einhundertfünfzig Jahre hinweg schildert. Immer wieder rechten deren Angehörige mit Gott, ergeben sich ihm ganz, verbannen ihn wieder aus ihrer Existenz, verlieren ihn aus dem Blick. Doch wie sich Gedanken an früh Gestorbene plötzlich und zufällig wieder in ihr Leben drängen, so auch die himmelstürzende Frage, warum Gott das Leiden in der Welt zulässt, warum der Tod wie das Vergessen Menschen, Namen, Sachen vernichten. Horn wagt eine poetische, mehrdeutige Antwort. Im Traum gerät ihre junge Heldin Leora - wie Dante in der "Göttlichen Komödie" - in einen jenseitigen Ort, eine versunkene Stadt im New Yorker Hafen. In diesem Vineta des Vergessenen existiert neben den Toten, derer nicht mehr gedacht wird, alles beiseite Geschobene, Verdrängte, Potenzielle, von ungeborenen Kindern über ehemalige Liebhaber bis zu eingestampfter Trivialliteratur: ein reizender Albtraum, eine erschreckende, mahnende, gleichwohl tröstliche Vision.

Von quälenden, rührenden, aber auch von spannenden und lustigen Szenen, die unmittelbar auf die Leinwand des inneren Auges projiziert werden, versteht Dara Horn etwas. In einer Passage steht der Knabe Bill Landsmann zögernd am Pissoir einer Museumstoilette, denn er ist als Jude hier unerwünscht; das Öffnen seines Hosenstalls könnte aus dem freundlich plaudernden und pinkelnden Wärter neben ihm einen prügelnden Unmenschen machen, doch der Drang lässt sich kaum noch beherrschen. In einer anderen Szene muss ein jüdisches Paar religiöse Vorschriften umgehen, um zu heiraten, und vermählt sich inoffiziell nach Dienstschluss am Fenster des Fabriksaals, während die im Hinterhaus wohnenden Trauzeugen von weitem zusehen und ihre Zustimmung hinüberschreien.

Gleichwohl unterlaufen Horn eine Reihe von Anfängerfehlern, welche die von ihr so überschwänglich gelobten Korrektoren hätten ausmerzen müssen. So beruhen viel zu viele Erlebnisse Leoras und Bill Landsmanns auf höchst kuriosen Zufällen, Motivketten ziehen sich zuweilen penetrant durch das Buch (vor allem das Tauchen, die Formung von Ton als Metapher für die Formung des Charakters, das Tal der Toten und die Barbaren). Etwas mechanisch konstruiert sie Biografien, und die Charaktere entfernen sich hie und da zu wenig von ihrer Rolle als Funktionsfiguren. Zuletzt gibt es noch sachliche Fehler, Klischees und Schwächen (beispielsweise in der Beschreibung von Schauplätzen).

Das wird viele Leser nicht stören, die sich von den spannenden Elementen der komplexen Handlungsführung gefangen nehmen lassen, die sich für die moralischen und intellektuellen Aporien interessieren, in die Horn ihre Figuren verstrickt. Sie können mit Recht sagen, dass dieses Buch mit seinen paar Unbeholfenheiten mehr für Herz und Verstand bietet als so manch handwerklich makelloses Werk.

Titelbild

Dara Horn: Ausgelöscht sei der Tag. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2002.
400 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3312003040

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