Dichter und Richter

F. W. Bernsteins Gedicht "Wachtel Weltmacht" wird in die deutsche Lyrikgeschichte eingehen

Von Robert GernhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Gernhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horaz zufolge sollen die Dichter dem Leser entweder nützen oder ihn ergötzen das vorliegende Gedicht erfüllt beide Postulate, da es zugleich lehrreich und schön ist.

Freilich bekommt der Leser nichts geschenkt. Bevor er den doppelten Gewinn einstreichen kann, wird ihm einiges abverlangt: Eine Wachtel soll er sich anschauen. Nicht irgendeine, sei es in der Natur oder in einem Lehrbuch, sondern jenes ganz bestimmte Exemplar, das vor dem geistigen Auge des Dichters steht beziehungsweise trippelt: Es bewegt sich durch einen finsteren Wald und ist in eine vergleichbar düstere Lebenslüge verstrickt. Das bleibt nicht ungerügt. Unversehens wandelt sich der Dichter zum Richter, der seinem Urteil durch hämmernde Wiederholung Nachdruck verleiht: "Wachtel Wachtel täuscht sich sehr."

Doch auch täuscht sich, wer glaubt, ihm werde nach solch rasantem Einstieg ein Moment der Besinnung gegönnt. Noch damit beschäftigt, sich ein Bild von der Wachtel, wie sie ist, zu machen, konfrontiert ihn die Urteilsbegründung bereits mit der Aufgabe, sich vorzustellen, wie die Wachtel sein könnte und was sie getan haben müsste, wollte sie ihrem Anspruch, "wer" zu sein, genügen. Ja, es kommt noch ärger. War der Leser nach der ersten Strophe durchaus bereit, sich der vehement vorgetragenen Wachtelkritik anzuschließen, sieht er sich nach der zweiten Strophe gezwungen, Kritikerkritik zu üben und sich ein Urteil über den offensichtlich delirierenden Richter zu bilden, der das noch moderate Hämmern der vierten Zeile in der achten zur Sinn und Syntax zertrümmernden Raserei treibt: "Wachtel Wachtel Dschingis Khan!"

Letzte Strophe, letzte Herausforderung: Unversehens ist die Welt wieder in Ordnung, moralisch und grammatikalisch. Unerwartet steuert der eben noch rasende Richter in ruhiger Parataxe auf einen Vergleich zu, dem Wachtel wie Leser bedenkenlos zustimmen können, ohne das Gesicht oder den Verstand zu verlieren: "Weltmacht Wachtel wird sie nie."

"Wollte ich auch nie werden", wird sich die Wachtel denken, "Gottlob!", mag der Leser seufzen, wenn er nicht und das ist wahrscheinlicher befreit auflacht.

Das Lachen sei "ein Affekt der Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts" lehrt Kant; demnach hat F. W. Bernstein mit "Wachtel Weltmacht?" ein geradezu exemplarisches komisches Gedicht geschrieben.

Das macht es lehrreich. Schön aber ist seine Wachtelkritik, weil er sie uns im komischen Gedicht mitteilt. Unmöglich, dessen Inhalt in noch so geschliffene Prosa zu übersetzen, undenkbar, sie anders als in gebundener Rede vorzutragen, in vierhebigen Zeilen bei strikt gewahrtem Paarreim: Je haltloser die Vorwürfe, desto mehr bedürfen sie der straffen Form, um nicht in schierer Beliebigkeit zu versickern und zu versanden.

Anfängerfehler, die einem F. W. Bernstein selbstredend nicht unterlaufen können. Der publiziert seit 1962, und bereits in dem ersten Buch, das er zusammen mit F. K. Waechter und dem Schreiber dieser Zeilen veröffentlicht hat, in "Die Wahrheit über Arnold Hau" von 1966, findet sich sein lapidarer, mittlerweile Volksgut gewordener Zweizeiler:. "Die schärfsten Kritiker der Elche / Waren früher selber welche." Kein Zweifel - F. W. Bernstein ist sich und dem so raren wie umwitterten Thema der Tierkritik über die Jahrzehnte treu geblieben: Er wird als der schärfste Kritiker der Wachtel in die deutsche Lyrikgeschichte eingehen.

F. W. Bernstein

Wachtel Weltmacht?

Schaut Euch nur die Wachtel an!
Trippelt aus dem dunklen Tann;
tut grad so, als sei sie wer.
Wachtel Wachtel täuscht sich sehr.

Wär sie hunderttausend Russen,
hätt den Vatikan zerschussen
und vom Papst befreit ja dann:
Wachtel Wachtel Dschingis Khan!

Doch die Wachtel ist nur friedlich,
rundlich und unendlich niedlich;
sie erweckt nur Sympathie.
Weltmacht Wachtel wird sie nie!


Titelbild

F. W. Bernstein: Reimweh. Gedichte und Prosa.
Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Eckhard Henscheid.
Reclam Verlag, Stuttgart 1994.
139 Seiten, 3,00 EUR.
ISBN-10: 3150093082

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