Krieg und Lieben

Mit entwaffnend schöner Sprache erzählt Karin Kusterer das "Märchen von der unglaublichen Liebe"

Von Monika von AufschnaiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika von Aufschnaiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An dem Tag, als Mara Maksim kennen lernte, wäre sie beinahe von einem Auto überfahren worden. "In einem Augenblick, so kurz wie der Abstand zwischen Randstein und Rinne, zwischen Fahrbahn und Reifen, verliebte ich mich in Maksim." Maksim, der russische Flüchtling mit dem blonden Flaum auf dem Handrücken, wirft Maras Leben völlig aus der Bahn. Wie ein Meteorit durchbricht er ihre Atmosphäre der Trägheit, erwärmt sich selbst aber kaum dabei: Nach einer einzigen gemeinsamen Nacht, in der die nach einer Operation eigentlich unfruchtbare Mara schwanger wird, verschwindet Maksim ebenso plötzlich wie er aufgetaucht ist. Die junge Frau macht sich auf die Suche nach dem Vater ihres Kindes, von dem sie nichts weiß, außer dass er in Afghanistan gekämpft hat. Doch der Krater, den er in Maras Welt geschlagen hat, füllt sich nun mit Erinnerungen - Erinnerungen an die Eltern, die Mara mit 18 Jahren durch einen Verkehrsunfall verloren hat und an den Afghanistankrieg, von dem ihr Maksims verrückter Kamerad Juri erzählt. So wie Mara zunächst die Rundung ihres Bauches ertastet, fühlt sie während ihrer Schwangerschaft Maksims Schicksal und damit auch ihrem eigenen nach.

Karin Kusterer hat in München, Moskau und St. Petersburg Slawistik studiert und für verschiedene Flüchtlingshilfeorganisationen gearbeitet. Nach ihrem Erzählungsband "Sturzflüge" hat sie nun ihren ersten Roman veröffentlicht. Kusterer ist keine "junge Autorin". Sie plaudert nicht über Befindlichkeiten, sie erzählt vom Leben - mit einer Sprache, die so stark ist, dass dabei die Themen zur Nebensache werden. Was Kusterer über den Krieg in Afghanistan, über den Flüchtlingsalltag in München und die Hilfeversuche der Deutschen erzählt, ist bis ins Detail erschreckend glaubwürdig. Mit wenigen Worten bringt sie einem Menschen und Schicksale nahe, ohne jemals distanzlos zu werden. Einzig die Ich-Erzählerin Mara bleibt - auch sich selbst - seltsam fremd. Dagegen ist Maras Art, ihre Umgebung zu charakterisieren, erstaunlich originell, beiläufig und dennoch präzise: Etwa wenn sie Jelena beschreibt, die ältere, füllige Russin, die sich Mangels Mann ihr Meerschweinchen in den Ausschnitt steckt; oder Juri, den misstrauischen Kriegsveteran, der nur über Zettelchen mit der Außenwelt kommuniziert; oder das Treiben eines Münchner Flüchtlingshilfevereins, der dem Elend mit Kuchenausschüssen und Fußballschuhspenden zu Leibe rücken will; oder wie sich bei Maras Irrfahrten die Promi-Stadt München in eine kaurismäkische Filmkulisse verwandelt ... Überall spürt man Kusterers Gabe, ungewöhnliche Bilder zu finden, die dem Leser einen Blick in neue Welten eröffnen und ihn mit Fremden vertraut werden lassen. Wer sich einmal in diese poetische, klare und wache Sprache versenkt hat, folgt ihr überallhin, selbst auf Schlachtfelder. Die wenigsten Autoren besitzen die Lebenserfahrung, den Humor und das literarische Können, um aus den Themen Schwangerschaft, Krieg und Flüchtlingsschicksal einen bereichernden, berührenden Lesestoff zu weben. Wer Karin Kusterers "Märchen" liest, spürt: Diese Autorin kann noch mehr.

Titelbild

Karin Kusterer: Märchen von der unglaublichen Liebe. Roman.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2002.
192 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3861505029

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