Was wir Schrecken nennen

Inger Christensens neuer Gedichtband "det/das"

Von Robert HabeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Habeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott." So beginnt das Evangelium des Johannes. Im Anfang sind die Dinge unbenannt, sie sind eins mit ihrem Schöpfer und deshalb sind sie auch nicht voneinander zu unterscheiden. "Das Wort war Gott" bedeutet, es gibt keine Maßstäbe der Erkenntnis. Es gibt keine Erkenntnis.

Damit die Welt der Menschen entstehen kann, muss die Einheit von Wort und Sein geschieden werden. Es muss ein Unterschied eingeführt werden. Sprache muss entstehen.

"Das. Das war es. Jetzt hat es begonnen. Es ist. Es währt fort. Bewegt sich. Weiter. Wird. Wird zu dem und dem und dem. Geht weiter als das. Wird anderes. Wird mehr. Kombiniert anderes mit mehr und wird fortwährend anderes und mehr."

So lauten der Anfang von Inger Christensens Gedichtband "det" und die vielleicht bekanntesten Verse aus der skandinavischen Lyrik der letzten fünfzig Jahre. "Det" ist im Dänischen der Artikel für ungeschlechtliche Worte, gleichzeitig als Pronomen der Platzhalter für bereits Genanntes. Man kann es mit "Das" oder "es" übersetzen und es ist sozusagen das Wort, das selbst am wenigsten eigene Bedeutung hat, sondern immer auf etwas bereits Vorliegendes oder Geschehnes verweist. Genau diese Uneigenständigkeit des Wortes spricht Inger Christensen in ihren ersten drei Sätzen aus.

"Das. Das war es. Jetzt hat es begonnen."

Das, was eigentlich geschehen ist, ist bereits vorbei. Das war es schon. Der Anfang ist bereits gemacht.

Wie wird das Wort von Gott geschieden? Das ist im Grunde die Frage nach der Vollkommenheit Gottes. Wenn Gottes Werk und Begriffe unendlich sind, wieso sollte sich dann je etwas geändert haben? Wie sollte ein Unterschied - oder eben Sprache - entstehen? Auf keine geringere Frage gibt Inger Christensen Gedicht eine Antwort. Und die Antwort bezieht die gesamte Wirklichkeit des Lebens mit ein.

"Det" beginnt mit einer der Sprache immer vorausliegenden Unterscheidung, dann wird diese zu Sätzen verallgemeinert, und wenige Abschnitte später ist Christensen mitten im Konkreten.

"Sie warten in fabriken, wo es von baumwolle, metallen staubt, von giftstoffen, säuren und kohle staubt, versteckte übergänge zwischen leben und tod. Oder sie warten in versammlungen, wo es von den blanken tischen staubt."

Die Suche nach dem Sinn der Entzweiung von göttlichem Wort und vorsprachlichem Sein erfolgt in der Sprache. Eine Wahrheit jenseits der Worte gibt es nicht mehr. Insofern unterstellt Inger Christensen ihre Poesie den Systemen, mit denen wir Menschen tagein tagaus leben. Die Musikalität und Schönheit ihrer Gedichte wird einem Schema unterworfen, das starr ist, wie eine Steuererklärung.

"Det" besteht aus drei Teilen, dem "Prologos", dem "Logos" und dem "Epilogos", also der Vorrede, der Haupt- und der Schlussrede, gleichzeitig aber auch der vorsprachlichen Welt, der Sprache und dem, was folgt. Die sprachliche Welt des Logos ist wiederum unterteilt in die Abschnitte "Bühne", "Handlung", "Text", woraus man ablesen kann, dass die Welt wie ein Drama zu deuten ist, bei dem der gesprochene Text nicht vorgeschrieben ist, sondern sich aus den Bedingungen seiner Aufführung ergibt. Die drei Unterabschnitte des "Logos" sind jeweils in acht Unterkapitel aufgeteilt, die jeweils acht Gedichte umfassen. Diese Unterkapitel tragen Namen, die der Geometrie bzw. der Mathematik entnommen sind. Sie benennen Strukturierungsmöglichkeiten, mit denen dem sprachlichen Kosmos ein System verliehen werden soll.

In einem Interview erklärt Inger Christensen das so:

"Einer der Gründe dafür, dass ich Systeme benutze, ist, dass ich gerne etwas anderes sagen möchte, als das, was mir zuerst einfällt. Da ich als Mensch die ganze Zeit mit Formen von Systemen konfrontiert werde, will ich, dass auch die Gedichte, die ich schreibe, in der Begegnung mit etwas Ähnlichem geschaffen werden. Auf diese Weise kommt etwas heraus, Gedichte, die eine Kombination aus der Welt und mir selbst sind."

Die so entstandenen Gedichte lesen sich dann wie folgt:

"In einer anderen atmosphäre in einer erschütternden freude in
Undenkbarkeiten die dennoch gedacht werden
Die phantasie wie geifer aus zucker was wir schrecken nennen
An der grenze zu wonne
An der grenze wo ein vogel sitzt
Er trinkt vom nichts
Er singt vom nichts
So generiert die magie ihre lebenszeichen
Die vögel fallen
Und in zig lichtjahren sehen wir ihren tod"

Das Gedicht sucht seine Sprache entlang einer Grenze zwischen dem Nichts, dem Undenkbaren und dem Schrecken davor und dem Sprechen genau über das Unsagbare. Die Vergeblichkeit, die "Undenkbarkeiten" jemals in Worte zu fassen, lässt die Vögel sterben. Aber indem wir ihren Tod sehen, sehen wir "Lebenszeichen der Magie".

"Det" stellt am Anfang die Frage, wie der Ursprung der Schöpfung zu erklären sei. Die Erklärung erfolgt entlang der poetischen Sprache, die sich den Systemen der menschlichen Welt stellt. Dort, so könnte Inger Chrsitensens Lösung vielleicht zusammengefasst werden, dreht sich die Bewegungsrichtung um. Nicht das Wort wird Fleisch, wie es im Johannes-Evangelium heißt, sondern das Fleisch wird Wort, vielleicht ist das Fleisch immer schon Wort gewesen, wenn Sprache wie das immer rückverweisende "det" funktioniert. Dann wäre das Wort nie bei Gott gewesen, sondern ihm immer schon voraus.

Titelbild

Inger Christensen: det/das.
Übersetzt aus dem Dänischen von Hanns Grössel.
Kleinheinrich, Münster 2002.
464 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3930754290

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch