Der Modelleisenbahner

Roger Willemsens "Deutschlandreise"

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ist er denn nun so, der Deutsche? Was macht ihn aus, wo kommt er her, wo geht er hin, worüber denkt er nach - und worüber nicht? Wie sieht er eigentlich aus, der Deutsche? Was macht er so, wo hält er sich auf, womit hält er sich auf, was treibt er - und mit wem? Roger Willemsen hat sich zur Beantwortung dieser Fragen ein paar Monate in diverse Züge aus Hartmut Mehdorns frisch lackiertem Fuhrpark gewagt, um von den Hauptbahnhöfen aus den Bundesbürger samt der ihn umgebenden Republik zu sondieren. Aha, der Willemsen also. Wie will sich denn dieser Willemsen, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur äußerst intellektuell aussieht, dem Volk so nähern, dass zum Schluss keine gedruckte Freak-Show dabei heraus kommt? Man befürchtet vor der Lektüre eine Art von ,akademischem Abstand' zu den Untersuchungsobjekten, einen Blick von oben nach unten, die Eindrücke eines Fahrenden, der das Glück hat, nur auf der Durchreise zu sein, der, wenn er genug hat, wieder entschwinden kann in die Privatbibliothek. Diese Befürchtung erhärtet die Tatsache, dass einst eine komplette Ausgabe des "SZ-Magazins" - dem bunten Lifestyle-Heftchen voller gewitzter Geschichten, raffinierten Gerichten und den im Abgang exquisiten Erzeugnissen südfranzösischer Privatwinzer mit kleinen aber sehr feinen Weinhügeln - für die Veröffentlichung der ersten Episoden der "Deutschlandreise" nahezu vollständig freigeschaufelt wurde. Über Willemsens Projekt grübelt man schon, bevor man den ersten Satz gelesen hat, man ist gespannt, ob und wie er die Kluft zwischen Autor und den zu begutachtenden Bürgern überwindet.

Gleich zu Beginn wird der Leser darauf eingestimmt, dass es in "Deutschlandreise" ans Eingemachte geht. Aus der Ferne, so meint Willemsen, wäre die BRD zu ertragen: "Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg." Mit Idylle und Harmonie will sich der Autor nicht aufhalten. Er wird stattdessen die dunklen Winkel aufsuchen, die Drecklöcher, die Betonwüsten. Dort verspricht er sich wahrscheinlich den Abgrund - und Menschen am Abgrund sind die Eindrucksvollsten. So geht es dann erst einmal nach St. Pauli, wo "Menschliches Strandgut" im Keller der "Ritze" am Boxring langsam ausgezählt wird. Schnitt. In Mölln muss sich eine Schulklasse das Haus ansehen, das man im November 1992 ausräucherte, ethnisch säuberte. Schnitt. "Elf Uhr morgens auf Sylt. Jetzt legen die Touristen in ihren Zimmern die Freizeituniformen an: Piratentücher um den Kopf, farbenfroh beschriftete T-Shirts, Adidas-Hemden, atmungsaktive Turnschuhe, Baseballkappen, jetzt kommen sie in die Lobby wie die berittene Polizei: Wo ist hier die Erholung?" Schnitt. Zwei frustrierte Frauen im Zug. Schnitt. Rostock- Lichtenhagen, einst ein Ort für Brandsatzwerfer. Schnitt. Warnemünde, einst ein Ort für Treibsatzfabrikanten. Im Tempo eines ICE rast Willemsen in den ersten Zeilen vom Verruchten zum Völkischen, von der Frustration der sozialen Randgebiete bis zum Feriendorf.

Der Autor kontrastiert die Realität mit der Vergangenheit, stellt O-Töne aus dem Volk Kommentaren und Anspielungen des gebildeten Bürgers W. gegenüber. Ein Busfahrer: "Gerade habe ich einen Punk gefahren. Er saß hier vorn, wo sie jetzt sitzen. Hab mich ganz nett mit ihm unterhalten. Da fragt er mich, wie alt ich bin. 58, sage ich. ,Wie alt bist du?', schreit er,58? Da ist das Gefühl beim Kacken ja schon besser als beim Vögeln.'" Roger Willemsen: "Im Hof aber türmen sich die Betonplatten auf, verschrägt wie auf Caspar David Friedrichs ,Die gescheiterte Hoffnung'." Ein Rezeptionist: "Aber denken Sie bitte daran, und seien Sie sparsam mit dem Klopapier. Ich kann ihnen sagen, die Japaner fressen das Klopapier. Weiß der Himmel, was die noch damit machen. Man hängt eine Rolle hin, dreht sich einmal um sich selbst, da ist die Hälfte schon verbraucht. Als koste das alles gar nichts!" Roger Willemsen: "Aurora mit dem Sonnenstern: ins Hohlkreuz gehen und ihr beide Arme entgegenstrecken, nackt wie ,Fidus, der Lichtgläubige', wie die nudistischen Freiluftübungen zur Zeit des Faschismus, nahtlos braun." Ein respektloser Jüngling und der große Romantiker, ein verständnissloser Herbergsvater und der Nazi-Hippie: Willemsen spiegelt nationale Ikonen - immer noch verehrte oder mittlerweile verachtete - am bundesdeutschen Heute. Das Volk lässt er für das Jetzt sprechen, er selbst zitiert die Vergangenheit. Willemsen nimmt während seiner Tour durch Deutschland kurz teil am Leben seiner Gegenüber, er lauscht und beobachtet, interviewt und provoziert, er ist immer mittendrin, aber nie dabei.

Am fast mittendrinsten ist er für eine halbe Stunde in Bonn. Ganz knapp hautnah konfrontiert er sich dort mit einer Repräsentantin des mehr oder weniger absoluten Tabus: er geht ins Bordell und kurze Zeit später mit der Nadine aufs Zimmer. Nadine fummelt ein wenig an sich herum, gebärdet sich wie in einem Hotline-Spot, doch bei Willemsen will sich nichts rühren, er will gar nicht, dass sich etwas rührt. Wie in einer Filmkomödie, in der es den sympathischen Helden irgendwie zufällig in ein Freudenhaus verschlägt, zahlt er brav, schaut sich die Dame interessiert an, will nur ein bisschen reden und geht schließlich gänzlich unbefleckt. In den Filmkomödien sind die käuflichen Fräulein dann immer ein wenig enttäuscht, doch Willemsens Entscheidung, das Weite zu suchen, "zauberte auch in Nadines Gesicht die alte Freundlichkeit zurück".

Der Autor beschreibt seine Eindrücke - auch die einschneidendsten - gebremst neutral, Wertungen nimmt er, wenn überhaupt, sehr dezent vor. Meist sprechen die nüchternen Schilderungen für sich, oft kommt einem der Ausdruck "Realsatire" in den Sinn. Einmal aber dringt Willemsens Wut durch, sein Unverständnis über herrschende Umstände. Dieser kurze Moment mag ein wenig platt wirken, ein bisschen aufgesetzt, doch kommt man nicht umhin, diesen Anfall voller Verachtung für das Streben nach einer makellosen Fassade mit einem Kopfnicken zu quittieren. Es geht um die Bahnhöfe, die keine Bahnhöfe mehr sind, sondern Erlebniseinkaufszentren, gereinigt von allen Subjekten, die dem Kaufkräftigen das entspannte Shoppen vielleicht vergällen könnten. Es geht um die Tatsache, dass neben den Spinden der Verkäuferinnen ein Spiegel hängt, in dem sie ihr Lächeln kontrollieren sollen, um dem Kunden beim Geldausgeben einen guten Grund zu bieten, noch mehr Geld auszugeben. Es geht darum, dass der Nichtkäufer sich doch gefälligst wo anders aufwärmen soll, dass die Bahnhofsmission den Bahnhof verlassen muss, da sie Bedürftige anzieht. "Unvorstellbar welche Kultur man haben könnte, wenn man an Problemen arbeitet, statt an Bilanzen, wenn also jeder vor allem täte, was er gesellschaftlich für wichtig, und nicht, was er für profitabel hält: Unsere Bücher hätten wirkliche Probleme, unsere Filme zeigten eine andere Welt, unsere Musik dürfte sich vom Ohrenschmaus emanzipieren, unsere Nachrichten dürften wieder politisch sein, in unseren Bahnhöfen dürften sogar Bettler lungern."

Wenn man Willemsens "Deutschlandreise" gelesen hat, dann sind die eingangs genannten Vorurteile über die Expedition ausgeräumt. Der Autor schafft es, durch Ausgewogenheit und wohlproportionierte Distanz ein bitter-süßes Bild des heutigen Deutschlands in feinen Farbschattierungen zu zeichnen, ganz ohne schwarz-weiß Malerei. Dem kulturgeschichtlich geschulten Willemsen seien seine Assoziationen mit Kunst und Literatur gegönnt, er hat das Recht, mit seinem Wissen über das Beständige das Flüchtige als Flüchtiges zu entlarven. Am besten sind die Stellen, in denen sich Bildung und Bauernschläue ergänzen, in denen das Rennen zwischen Hase und Igel unentschieden ausgeht. "Das Wahrzeichen von Igel ist überraschend ein Igel. Nicht das 23 Meter hohe Sandstein-Grabmahl, das den Todesgöttern geweiht wurde, die berühmte ,Säule von Igel?, in deren Schatten heute nur zwei Kinder sitzen. Das dickere sagt: ,Neulich hab ich versucht, das ganze Alphabet durchzurülpsen, aber bei P ist mir schlecht geworden.' ,Lieblichkeit und Würde' bescheinigte Goethe dem Ort, als er am 26. 8. 1792, auf dem Weg nach Frankreich, hier durchpassierte. Eine Plakette hat er dafür bekommen, aber während ich sie gerade abschreiben will, schreit das dicke Kind schon dazwischen: ,Meine Mutter sagt, der hat hier nur gepißt!'"

Titelbild

Roger Willemsen: Deutschlandreise.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3821807180

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