Engagiert bürgerschaftlich bowlen

Zwischen politischer Rhetorik und rhetorischer Politik situiert die Enquete-Kommission die Zukunft bürgerlichen Handelns

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat einmal geschrieben, dass von wissenschaftlicher Warte die Enteignung von Begriffen durch die Politik sehr ungern gesehen werde, da dieser Prozess in der Regel mit dem Verlust von Substanz und Trennschärfe einhergehe. Diese Feststellung bezieht Münkler mit einigem Recht auf den Begriff der "Zivilgesellschaft", wie sich anhand des umfangreichen Abschlussberichts der Enquete-Kommission des 14. Bundestages "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" leicht nachweisen lässt. Mit der Spezifikation des Umfangreichtums ist dabei so einiges benannt: von der Seitenzahl des Berichts selber (851 enggedruckte Seiten) bis zu dem, was eigentlich unter "bürgerschaftlichem Engagement" - mithin also der zentralen Aktivität der zivilen Gesellschaft - zu verstehen sei. Dabei bleibt gelegentlich Gegensätzliches unvermittelt stehen und umfangreiche Wiederholungen werden den Lesern nicht erspart. Wenn also die Enquete-Kommission eine repräsentative Beobachtung der Gesellschaft leistet, kann aus wissenschaftlicher Perspektive diese Beobachtung nur selbst beobachtet werden, für präzise wissenschaftliche Auseinandersetzung sollte lieber zu den kontroversen Aufsätzen in der qualitativ hochwertigen Schriftenreihen gegriffen werden.

Zunächst gilt es sich dem Topos über den Begriff der "Bürgergesellschaft", der als Leitmotiv gewählt wurde, anzunähern. Während bei Hegel die bürgerliche Gesellschaft nach der Familie und vor dem Staat ein integrales Drittel der Sittlichkeit im Voraussetzungsverhältnis darstellt, haben die Autor keineswegs ein idealistisches Projekt im Sinn, das antike Philosophie der Sittlichkeit unter den Voraussetzungen der Modernität zu wohlgeordnetem Leben verbinden soll. Vielmehr bleibt fraglich, ja bisweilen zweifelhaft, was direkter Sinn und Zweck der Enquete-Kommission war. Ihre formale Aufgabe besteht in der Politikberatung und die systematische Bestandsaufnahme des gestellten Problemfeldes. Die Hoffnung Diskussionen oder gar Diskurse aufzunehmen und in praktische Politik zu verwandeln, steht dabei gerne auf dem journalistischen Block nach der ersten Pressekonferenz.

Die Bürgergesellschaft weist nun zunächst den Weg, das darin angelegte Engagement zum Wohle der Gesellschaft ist eine erste, sehr vage Bestimmung des Untersuchungsobjekts. Dabei wird erkannt, dass der Bürgerstatus und die bürgerlichen Rechte eine dringende Voraussetzung für gesellschaftsorientiertes Engagement sind. Präzisiert wird der Begriffsdunst allerdings nicht: Indem jede Art der Aktivität, von der Barspende bis zur Übernahme eines Ehrenamtes als wichtiges Engagement dargestellt wird, klärt sich höchstens, dass die politischen Parteien, denen eine Art Supervisorenrang neben der bloßen Partizipation durch Abgeordnete zufällt, die Felder stark umkämpften. Jede politische Richtung musste sich ihres angenommenen Klientels versichern. Und so ist tatsächlich der Teil der Selbstdarstellung der Parteien, ihres Verständnisses von Zivilgesellschaft und ihren Zugängen zu zivilen Engagement am aussagestärksten. Hier markieren sich eklatante Differenzen, die sich um das Verhältnis von Projektförderung zu Institutionenförderung oder der Möglichkeit, die scharfe Trennung von Erwerbsarbeit und Engagementformen aufzuheben, ranken. Während also der Rest des Berichts - und darin machen sich die Längen fest, die wenig als Seitenzahl per se gemessen werden können - die unterschiedlichen Positionen aufzufangen und mit den Beiträgen der geladenen Wissenschaftler zu vermischen versucht, stehen hier die Parteienideologien deutlicher im Raum. Während die SPD analog zu ihrem programmatischen Ansatz gesellschafts- und wirtschaftspolitische Steuerung fahren zu lassen, den Wohlfahrtsstaat umbauen (aber nicht abbauen, wie die Genossen bemüht hinterherschieben) wollen, schlägt die FDP gegen Gewerkschaften und will ganz treu nach Adam Smith alle für sich selbst sorgen lassen um für alle gesorgt sein zu lassen. Bei den Sozialdemokraten gilt es die Modernisierungsverlierer per Zwang notfalls auf einem zivilgesellschaftlichen Arbeitsmarkt in Lohn und Brot zu bringen, während die FDP darin wohl den Antichristen, also die staatliche Bevormundung schlechthin erkennen würde. Die CDU widmet sich in einem Sondervotum einem breiten Themenspektrum, das insbesondere durch die Negativabgrenzung des Begriffs des zivilen Engagements gegen rechts- und linksextreme Positionen auffällt und ansonsten eine bekannte Mischung aller Spielarten von Konservativismus (Institutionenförderung für Kirchgänger, Wertevermittlung etc.) in einem "entpolitisierten" zivilen Sektor unterbringen möchte. Kurios mutet hier die Idee an, Sozialhilfeempfänger zu zivilem Engagement zu verdonnern.

Die Grünen/Bündnis 90 reden erwartungsgemäß von Basisdemokratie und "sozialer, politischer und ökonomischer Teilhabesicherung", sowie einem ethnischen und ethischen Pluralismus. Die PDS schließlich sieht als einzige Partei eine zarte Gegenübersetzung von Staat und Partei. Nichts weist aber mehr auf die "feindlich sich gegenüberstehenden Heere", von denen Marx in der Kritik der Rechtsphilosophie seines Lehrers an der Berliner Universität noch sprach. Allerdings stellt die PDS fest, dass über ziviles Engagement als politisch artikulierten Willen staatliche Mechanismen verändert werden müssen - eine theoretische Position, der sie in ihren zwei Regierungsfunktionen ebenso wenig entsprechen, wie dies die anderen Parteien tun.

An diesen Stellen gewinnt der Bericht an Nährwert, da sich zum einen die Streitlinien kompakt abzeichnen, zum anderen die ganze Wucht inhaltsbefreiter, politischer Rhetorik deutlich wird. Die Zivilgesellschaft und das Engagement der Bürger entkleidet sich deutlich als Vereinahmungsobjekt der politischen Parteien, eine Legitimitätsanforderung an Politik (also eine Annäherung an den Begriffsinhalt von Demokratie), werden in rhetorischen Girlanden müde umschifft. Während hier die Stunde für semantische Ableitungen ideologisch hochaggregierter Begriffsverwendung gekommen ist, lassen sich in einem weiteren Schritt Rückprojektionen auf die vorangestellte Definition und Aufgabenstellung der Enquete-Kommission leisten. So scheint ein übergreifendes Credo zu sein, dass die Vorstellung von staatlicher Steuerung von Gesellschaft und Ökonomie im angenommenen und populistisch verwendeten Status der Globalisierung nicht mehr durchführbar ist. Wir erinnern uns, vor und während des Einsetzungsbeschlusses zur Kommission versuchten etwa Tony Blair und Gerhard Schröder in einem nach ihnen benannten Papier die internationale Sozialdemokratie von jenem lästigen Instrumentarium der Regulationsvorstellungen und Gewerkschaftsnähe zu befreien. Die Enquete ist die späte Antwort auf die weitgehend schmerzfreie Verwendung des Postulats einen neuen Dritten Weg zu beschreiten. Zugleich stellt sich der Bezug zu den mehreren Millionen Arbeitslosen her, die Krisis des Kapitalismus in seiner derzeitigen Verfassung von Produktion und Konsumtion mag eine weitere Motivation zur Überprüfung der Zivilgesellschaft gewesen sein. Anknüpfend etwa an Robert Putnams "Bowling Alone", ist es nicht uninteressant zu überprüfen, welche Ersatzfunktionen und Placebo-Tätigkeiten aufgebracht werden, damit die Gesellschaft sich weiter als solche versteht und Binnenkräfte von Solidarität und Ungerechtigkeits-Kompensation erzeugt - ohne, dass es den Staat etwas kostet und ohne, dass der systemische Rahmen der warenproduzierenden Gesellschaft tangiert wird. Am Ende sind es diese offen gebliebenen Fragen, die bei parteienpolitisch organisierten AutorInnen einen unguten Geschmack trotz aller Kaschierungsversuche hinterlassen müssen und den Beobachtern deutlich als Intention hinter den Arbeiten auffallen: Wie kann privates Engagement staatliche Versorgung ersetzten? Wie kann der sozialen Desintegration im Zuge der Fortentwicklung der kapitalistische Gesellschaft vorgebeugt werden, so dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Reichtumsverteilung befriedet werden können? Welche Semantiken müssen von politischen Parteien dominiert werden, um Machtfunktionen zu behalten? Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission zum bürgerschaftlichen Engagement ist also ein lehrreiches Werk politischer Rhetorik unter anderem auch für Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft.

Titelbild

Enquete-Kommission "Zukunft bürgerschaftlichen Handelns": Bericht Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft.
Herausgegeben vom Deutschen Bundestag.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2002.
851 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3810036609

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Titelbild

Enquete-Kommission "Zukunft bürgerschaftlichen Handelns": Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft.
Herausgegeben vom Deutschen Bundestag.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2002.
284 Seiten,
ISBN-10: 3810032468

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