Die Entwicklung des Geistes zur Freiheit

Erna Seeberger-Sturzenegger, die Frau eines Philosophen, erzählt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich sahen sich zahlreiche Frauen in den vergangenen Jahrhunderten genötigt "unter falschem Namen" zu schreiben; man denke nur an Lou Andreas-Salomé alias Henry Lou, Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer, Jenny Hirsch alias Franz von Busch oder Berta Eckstein alias Sir Galahad. Dass sich aber ein Mann 'sein' gesamtes Œuvre, angefangen von der Dissertation über mehrere Buchveröffentlichungen bis hin zum letzten Zeitungsartikel von seiner Frau schreiben lässt, hätte bislang wohl kaum jemand für möglich gehalten. Weit gefehlt. Wie im autobiographischer Rückblick "Die Frau des Philosophen" von Erna Seeberger-Sturzeneggers nachzulesen ist, tat genau das der 1914 in der Schweiz geborene 'Philosoph' Willy Seeberger. Nicht ohne Grund hat die Autorin ihr "bescheidenes Lehrstück" allen "jungen vertrauensseligen Frauen" gewidmet. "Frei von Hassgefühlen und Rachedurst", wie sie hofft, ist es aber wohl kaum. Vielmehr entpuppt es sich im Laufe der Lektüre immer mehr als ein Dokument des Hasses.

Zunächst schildert die Autorin jedoch ihren intellektuellen Entwicklungsweg von Kindesbeinen an. Von Anbeginn an Autodidaktin lernt sie bereits im Alter von drei Jahren lesen und legt fortan einen schier unbändigen Bildungshunger an den Tag. Wird diese Extravaganzen von ihrem Vater schon damals nicht sonderlich goutiert, so verbietet er ihr später trotz vehementer Fürsprache des Pfarrers zu studieren. Ein Studium, so lautet der Bescheid des Handwerksmannes, "gehör[t] nicht zu unserem Stand". Das kann allerdings weder ihre "Lesewut" noch ihren Bildungseifer aufhalten, und schon bald findet sie ein ganz besonderes "Steckenpferdchen", in dem sie völlig aufgeht: die Philosophie. Wie viele ihrer Generation, und mehr noch derjenigen ihrer Mütter, findet sie in Nietzsche ihren ersten Geistesheroen und liest ihn "als handele es sich beim von ihm Verkündeten um das Lebensbrot". Doch schon bald wird sie seiner "überdrüssig" und erkennt ihn als "Rattenfänger". Nach einigen Stationen, die über Schopenhauer, Bebel, Engels und Marx führen, landet sie schließlich bei Hegel, dessen Philosophie schnell zu ihrem "alles dominierenden Lebensinhalt" wird und es bis zu ihrem Lebensende bleibt. Nichts und niemand kann gegen ihn bestehen. Allenfalls, dass sie vielleicht noch Kants "Metaphysik der Sitten", als "ein wunderschönes kleines Werk deutscher Buchkunst" durchgehen lässt.

1930, im Alter von 23 Jahren, lernt Erna Sturzenegger einen Mann kennen, mit dem sie bald eine Liebesbeziehung eingeht. Dass er verheiratet ist, verschweigt er ihr lange. Zwölf Jahre später, er ist inzwischen längst geschieden, heiraten sie. Als sie ihn einmal auf seine "dauernd kurzlebige[n] Affären" anspricht, erklärt er kurz, "Männer seien eben polygam und die Frauen schließlich ja auch dazu da". Doch nicht deshalb trennt sie sich nach gerade mal 14 Tagen Ehe von ihm, sondern wegen seiner "zwielichtigen Geschäfte", die sie offenbar unmittelbar nach der Hochzeit entdeckt. Abgestraft wird der "Stolperdraht" damit, dass er nicht nur - wie auch ihr zweiter Mann - im Textteil namenlos bleibt, sondern zudem weder im Anhang genannt wird, noch im umfangreichen Bildteil auftaucht.

Trotz aller Philosophie aus Schaden wenig klug geworden heiratet Sturzenegger 1946 zum zweiten Mal. 1946 ehelicht sie den sieben Jahre jüngeren Willy Seeberger, "ohne je auch nur einen Augenblick lang in ihn verliebt gewesen zu sein". Wieso sie diesen Mann, der ihr von Anfang an wenig sympathisch war, überhaupt geheiratet hat, weiß die Autorin nicht so recht zu erklären. Eine besondere erotische Attraktivität kann es kaum gewesen sein, beschreibt sie Seeberger doch als ein "Unikum an Hässlichkeit" mit einem "Zuchthäuslergesicht". Ebenso wenig lässt ihre Schilderung auch nur eine einzige charmante Seite an ihm erkennen oder etwa einen bestechenden Intellekt, beklagt sie doch seine "massive[n] Bildungs- und Kenntnislücken" und die "Fülle seiner Minderwertigkeitsgefühle", die er mit "plumpe Kompensationsversuche[n]" kaschieren wollte. Kurz, sie sieht in ihm einen "Nichtskönner [...] in seiner ganzen Nichtswürdigkeit". Immerhin, so konzediert sie, besitzt er die "Waffen des Primitivverstandes", als da sind "der Pfiff, die Schlauheit, die List, die Heimtücke, die Verschlagenheit und die Niedertracht". Aber auch sie dürften schwerlich ein Grund gewesen sein, Willy Seeberger zu heiraten. Und dass er ihr einmal Hegels "Phänomenologie des Geistes" geschenkt hat, kann doch kaum der wirkliche Grund gewesen sein. Die Geschichte bleibt also einigermaßen mysteriös. Auch wenn Seeberger-Sturzenegger quasi entschuldigend schreibt, ihr späterer Mann habe sie in den Monaten vor der Hochzeit mit dem "Biss [...] eines starken, angriffigen Hundes" gepackt, "der nicht mehr preisgeben würde, was er einmal zwischen den Zähnen hatte". Nicht weniger degoutant als den Gatten empfindet sie dessen Familie. "Wie ein Blitz" durchfuhr sie auf der Hochzeit die Erkenntnis, "dass ich seit knapp einer Stunde einer Menschengruppe angehörte, von der jedes einzelne Mitglied mich mit seinem blossen Sosein abstiess".

Die Ehe, die ohne ein gerüttelt Maß an Masochismus wohl kaum durchzustehen gewesen sein dürfte, erfährt Seeberger-Sturzenegger als einzige andauernde Demütigung. Vom ersten Tag an verhält ihr Mann sich ihr gegenüber "geringschätzig, überheblich und anmassend" und immer wieder schlägt ihr "ungezügelter Hass" entgegen.

"Mit knapper Not", so die Autorin, absolviert er während der Ehe die Maturaprüfung und immatrikuliert sich an einer Universität. Doch während der langen Jahre seines Philosophie-Studiums befasst nicht etwa er sich mit den Geistesgrößen seines Faches, sondern sie arbeitet an einer großen Hegel-Monographie, "Hegel - oder die Entwicklung des Geistes zur Freiheit", die sie ihm, dem zu Schulzeiten schon von der "Frau Mutter" die "Hausaufsätzchen" geschrieben wurden und der auch in späteren Jahren "nicht die leiseste Ahnung von Grammatik" hatte, und der "nicht einmal eine einigermassen zuverlässige Orthographie" beherrschte, schließlich als Dissertation überlässt. Denn sie befürchtet, er könne ihr untersagen, die Arbeit unter ihrem eigenen Namen zu publizieren. Damit ist der Anfang gemacht, und fortan verfasst sie "sämtliche schriftlichen Arbeiten" für ihn: neben der großen Hegelbiographie einige Essays und etliche Beiträge für verschiedene Tageszeitungen, darunter so namhafte wie die "Neue Zürcher Zeitung".

Im Alter von 85 Jahren trennt sich Seeberger-Sturzenegger endlich von "dem Luzerner", wie sie ihn nur nennt, und beginnt an der Arbeit des nun erschienen Buches, das sie wenige Wochen vor ihrem Tode im Jahre 1995 fertig stellt.

Titelbild

Erna Seeberger-Sturzenegger: Die Frau des Philosophen. Vom Traum zum Trauma - ein autobiographischer Rückblick.
Schwabe Verlag, Basel 2003.
419 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 379651927X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch