Tschuktschensaga zwischen Mythos und Moderne

Das schwierige Genre und die "Wende der Zeit" in Jury Rytcheus Roman "Der letzte Schamane"

Von Martin ZähringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Zähringer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jenseits des Nordpols, von Nordostgrönland aus gesehen - um einmal die lokalen arktischen Perspektiven zu üben - fast diametral "gegenüber" auf dem Nördlichen Polarkreis, auf der anderen Seite der Welt, liegt Juri Rytcheus Geburtssiedlung Uelen, auf der äussersten Spitze der sibirischen Halbinsel Tschukotka, in Sichtnähe Alaskas, ein markanter Flecken, schon uralt. Hier begann er 1930 sein Leben - in einer traditionellen Jaranga mit Walrosshautdach und Fellpolog, dem inneren Wärmezentrum. Der "erste Schriftsteller des tschuktschischen Volkes" wird er genannt. Rytcheu hat sich am Anfang seiner Laufbahn als engagierte und ausgewählte Stimme seines Volkes in der sowjetischen Vielvölkergemeinschaft verstanden. In "Der letzte Schamane" ist es besonders die eigene Familie bzw. deren männliche Stammlinie, die zum Gegenstand seines Erzählens wird. Dieses Erzählen hat eine besondere Strategie - es eignet sich emphatisch die Formen der jeweiligen Epochen an, die es durchwandert. Das ist nicht so einfach. Garant einer vom Autor bewusst ins Feld geführten Authentizität ist seine kulturelle Identität als Tschuktsche, und im speziellen Fall des Dichters die Ohrenzeugenschaft: "Möglich, dass meine Berichte über die vergangene Zeit von den sogenannten wissenschaftlichen Forschungen abweichen. Hier bin ich bereit, mit den Männern der Wissenschaft zu streiten ... woher nehmen sie die Gewissheit, dass ihre eigenen Berichte wahr sind, wenn sie kein einziges Mal am Abend den langen Geschichten der berühmten Legendenerzähler zugehört haben, wie zum Beispiel dem Walrosselfenbeinschnitzer Nonno und meiner Großmutter Giwewneu?"

Rytcheu hat zugehört. Seine weit ausholende, in oralen Traditionen vermittelte Familienchronik ist aber auch der trefflichste Vorwand für engagierte Rekonstruktionen der verschiedenen arktischen Kulturen, besonders aber auch der Geschichte des Kulturkontaktes zwischen den verschiedensten Völkern und Nationen. Gerade hier konkurriert er sehr erfolgreich mit den in Frage gestellten Genres der Wissenschaft. Seine ethnographischen und zugleich künstlerischen Aufnahmen der wesentlichen Handlungsweisen, Lebensformen und ihrer symbolischen Interpretation (der eigenen eben) können in dieser Kombination so schnell nicht übertroffen werden.

Seine Tschuktschen-Saga beginnt mit mythologischen Erzählungen, geht von da aus über in eine Rekonstruktion der Geschichte der Schamanenfamilie und ihres Volkes, der Luorawetlan vom Meer - und endet in der Ära des sowjetischen Sozialismus. Im Zwischenraum von Mythos und Historie entwirft Rytcheu die Ahnengeschichte des Schamanenclans, dem er entstammt. So hält sich das erste Buch dieser Saga in einer mythologisch-oralen Tonart, beginnend mit einer tschuktschischen Variante des Raben-Schöpfungsmythos und der Abstammung der Luorawetlan vom Wal. Dem Helden dieser "Tschuktschen-Saga" hat sein Großvater, der berühmte Schamane Kaljantagrau, nicht nur den Namen gegeben: Mletkin - "An der Wende der Zeit". Er vermittelt ihm auch die wichtigsten Eigenschaften seiner Berufung: "Im Unterschied zu den Tangitan (Die Fremden) haben wir keine festen Sprüche, die immer gelten. Wer sich dem Dienst am Menschen und an den höheren Mächten widmet, muss lernen, sich mit seiner Seele und seinem Verstand auf alle Erscheinungen des Lebens einzustellen. Und das nicht mit den erstbesten Worten, die einem in den Kopf kommen, sondern mit treffenden, die dem Ort, der Zeit und den Umständen voll und ganz entsprechen". Diesem Programm entspricht auch die interkulturelle Poetik des Enkels Rytcheu - sie wirken fremd auf uns Tangitan, die "treffenden" Worte des Schamanen. Der bezieht seine Qualitäten als stilsicherer Schriftsteller aber auch aus einer intensiven bilingualen Grundübung - dem Übersetzen der russischen Literatur ins Tschuktische, der tschuktschischen Erzählungen und anderer tradierter Stoffe ins Russische und dem Rückübersetzen in die eigene Sprache. Zeigen kann Rytcheu vor allem eines - es gibt keine Notwendigkeit, die Bilder und Metaphern einer Epoche oder eines Volkes eins zu eins in die Sprache ,des anderen' zu übersetzen. Man muss nicht versuchen, die poetische Bedeutung einer oralen Figur in den Horizont einer schriftlichen Tradition zu ,übertragen'. Ein Beispiel: "In diesem Augenblick erinnerte sich Mletkin plötzlich an das junge Mädchen aus dem Tundralager, an ihren zierlichen, kindlichen Körper, an ihre Augen, die so schwarz wie Rentierkot waren, und an ihr Lächeln, das wie ein blasser Sonnenaufgang im Winter war." Immerhin ist das Mädchen seine heissgeliebte Zukünftige, aber Rentierkot im weissen Schnee der Tundra ist für tschuktschische Erzählungen eben ein ästhetisches Motiv. Rytcheu gelingt mit solchen konsequenten Verschiebungen eine durchgängige und erfrischende Perspektive der ästhetischen Verfremdung, indem er die poetischen Elemente der mündlichen Tradition so in die Ebene des Textes verschiebt, dass sie dessen universalistischen Anspruch von vornherein durchbrechen. Dieser Text bringt eine andere Poesie.

Der Großvater des Erzählers - Mletkin also, geboren etwa 1868 - lernt Russisch beim Ethnologen Bogoras und Englisch bei den Walfängern und gelangt im Zuge seiner Reisetätigkeit bis zur Weltausstellung nach Chicago. Dort wird er im "Globalen Dorf" als Schamane ausgestellt. Angestellt - sagen die verantwortlichen Anthropologen. Diese historische Völkerschau bietet Rytcheu den denkbar besten Einsatz für jene Taktik der Inversion, die zum militanten Arsenal der post-/antikolonialen Ästhetik gehört: eines ethnologischen Blickes von der anderen Seite auf die weisse Kultur. Unabweisbar demaskiert er die Herrenattitüde jener "Tangitan", deren typische Lebensweise hier als Einzige nicht in vorgeblich authentischen, von Anthropologen wissenschaftlich verifizierten Lebendexponaten ausgestellt wird - dafür aber gerät sie umso schärfer ins mentale Visier des Schamanen. Dessen Perspektive - "sich mit seiner Seele und seinem Verstand auf alle Erscheinungen des Lebens einzustellen" führt zwangsläufig zu einer Neubewertung der Segnungen der Zivilisation. Städtebewohner lesen wie ein Nomade sieht. Sie lernen, wie tief die Wurzeln des Rassismus sitzen, hier die amerikanischen. Aber auch die handels-christlichen Russen kommen nicht zu kurz, und die Sowjets bekommen ihr ganz eigenes Fett ab. Der Schamane weiß aber auch, was gut ist bei den Tangitan: Vom Honorar kauft er Kompass, Zeissfernglas, Grammophon und Zahnarztbesteck. Das ist bereits das ganze Instrumentarium eines modernisierten Schamanentums - mit seinen vielfältigen sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Fachbereichen. Allerdings: Mletkin vertritt trotz seiner Welterfahrung eine durch und durch patriarchalische und traditionsverwurzelte Weltanschauung - bis zu seiner letzten rituellen Handlung, der Taufe seines Enkels. Die aber missglückt - einen Namen aus der überlieferten Schamanenlinie wollen diesem die "Gespreizten Flügel" nicht mehr geben. Der muss also Rytcheu heißen, der Unbekannte.

Der Trick, auf die Welt zu kommen, wenn der Held des Buches an dessen Ende stirbt, ist nicht schlecht. Am Ende des Buches, das man selbst schreiben wird - geschrieben hat. Ein Ende, das sein Anfang ist.

Am Ende der Lektüre wären nun auch die Leser aufgefordert, neu anzufangen. Sie könnten Leben und Werk dieses Schamanen der Poesie durchaus tiefer ausloten, um zu sehen, wie das Problem des Cultural Clash sich in tschuktschischer Perspektive darstellt. Möglich wäre das in einer langen Reihe von auf Deutsch vorliegenden Werken Rytcheus. Es muss eine sehr anschauliche Geschichte sein, zwischen Sozialismus und Schamanismus, zwischen Nomadentum in Nordostsibirien und Literatenexistenz in Leningrad. Oder eben - St. Petersburg. An der Wende der Zeit?

Im Vorwort schreibt Rytcheu: "Der Nebel, der die alten Mythen einhüllt, die uns den Geist des alten Lebens überbringen, soll sich ein wenig auflösen, hell und deutlich sollen die lebendigen Gesichter meiner Vorfahren werden, auf die ich nicht weniger stolz bin als die Vertreter angesehener europäischer Familien auf ihre ehrwürdige Herkunft." Hell und deutlich werden die Gesichter in diesem poetischen Roman. Er hilft, den Nebel zwischen unseren europäischen Klischees und den tschuktschischen Lebens- und Denkweisen ein wenig aufzulösen. Aber das mit der ehrwürdigen europäischen Wahlverwandtschaft möge er sich noch einmal überlegen.

Titelbild

Juri Rytcheu: Der letzte Schamane. Die Tschuktschensaga. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Antje Leetz.
Unionsverlag, Zürich 2002.
352 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3293002994

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