Ein objektiv idealistischer Gebrauchtwagenhändler der Kunst

Über Mark William Roches moralische Begründung der Literatur im technischen Zeitalter

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich leben wir im nachmetaphysischen Zeitalter. Sieht man die Evolution der Wissenschaft als einen Baum, ist der deutsche Idealismus seit langem ein nahezu abgestorbener Ast. Scheinbar totes Holz zwischen all den empiristischen, sprachanalytischen und strukturalistischen Trieben. Nur bei genauem Hinsehen erkennt man, dass diese ehrwürdige Denktradition weitgehend unbeachtet nach wie vor ihre bunten Blüten treibt. Mal mehr, mal weniger ernst zu nehmende Nachfolger, Fortsetzer und Querdenker setzen aus zum Teil alles andere als schlechten Gründen unbeirrt auf Kant, Fichte und Co. Wissend um die Schwachstellen und blinden Flecke heutiger Theoriemoden, offerieren diese lebendigen Fossilien des Wissenschaftsbetriebs oft zu Unrecht vergessene messerscharfe Einsichten. Zumindest der ideale Idealist tut das. Beim real existierenden Idealisten muss man sich leider mit weniger zufrieden geben.

Eine dieser Blüten treibt der amerikanische Germanist und Philosoph Mark William Roche, der an der Universität von Notre Dame lehrt. Er sieht sein Unternehmen, der Literatur und in ihrem Anhang der Literaturwissenschaft einen Ausweg aus ihrer Dauerkrise zu zeigen, indem er ihre moralische Legitimation aufzeigt, in der Tradition des "Objektiven Idealismus". Hegel, Schiller, Kant und Vittorio Hösle sind demnach seine Gewährsmänner; Luhmann und Derrida seine Gegner. Unberechtigt ist Roches Anliegen keineswegs - in einer Zeit, in der die Ökonomie längst auch den Wissenschaftsbetrieb, gerade auch den der Geistes- und Literaturwissenschaften, dominiert und die Frage nach dem, was "Kunst", was Literatur und Dichtung in einem emphatischen Sinn eigentlich bedeuten, kaum noch ernsthaft gestellt wird. Eben dies wirft Roche seinen Zunftgenossen vor: "Die Frage, warum wir lesen sollen und warum wir Literaturwissenschaft betreiben sollen, wird [...] selten gestellt." Ihm geht es "um den moralischen Wert von Literatur, d. h. um die Frage, ob es sich lohnt, dafür Zeit zu investieren, und wenn ja, was Literatur sein kann und sollte". Roche sieht - im Anschluss an Schiller - das Problem der Gegenwart in dem alles beherrschenden Mittel-Zweck-Denken, in der kalten Rationalität der Systeme und in der zum Selbstzweck entarteten Technik, mit den bekannten gravierenden Folgen für die Individuen. Solle Literatur (und damit auch die Literaturwissenschaft) heute legitimiert sein, müsse sie zeigen, inwiefern sie einer selbstentfremdeten, unter dem Diktat der Technik stehenden Gesellschaft helfen könne. Roches Antwort (mit Schiller und, mit Einschränkungen, auch mit Adorno) lautet, dass Kunst und Literatur einen Gegenentwurf zur fragmentierten Wirklichkeit bilden. Dass die mit ihnen verbundenen Erfahrungen von Harmonie, Sinn und organischer Ganzheit Auswirkungen haben auf das Gemüt und das Seelenleben der Individuen und insofern Voraussetzungen schaffen für eine moralische Erneuerung der Gesellschaft. Kunst als "Schonung" also, in der allein der Mensch noch ganz sein, in der er spielen, das Schöne mit interesselosem Wohlgefallen genießen kann - diese Ästhetik ist wohlbekannt. Ebenso bekannt ist das Hauptargument gegen sie, dass nämlich ein solches Kunstverständnis Gefahr läuft, die abgelehnte technifizierte Gesellschaft bestenfalls letztlich nur weiter in Betrieb zu halten, indem sie ihren Mitgliedern kompensierenden, restaurierenden Urlaub anbietet, die heile Welt des "Musikantenstadls", die die psychischen Folgeschäden repariert und Bedürfnisse nach Harmonie und Ganzheit befriedigt.

Bei Roche wird diese Gefahr sichtbar, wenn er für eine harmonische Kunst, für eine Ästhetik des Maßvollen und des Gleichgewichts plädiert - und damit letztlich nur seinen privaten Kunstgeschmack normativ veredelt - und im Gegenzug die heute dominierende, eher an Disharmonie und der Idee des Fragments orientierte Kunst problematisiert: "Kann jedoch [...] eine Ästhetik, die Unbegrenztheit, Offenheit und Quantität in den Mittelpunkt stellt, dem dringenden Bedürfnis danach gerecht werden, die Tugenden der Mäßigung, der Beschränkung und des Gleichgewichts und die Fähigkeit, mit weniger zufrieden zu sein, neu zu beleben? Wird uns eine Kunst, die kein Gleichgewicht und keine Harmonie der Teile mehr kennt, dafür sensibilisieren, daß wir das ökologische Gleichgewicht zerstört haben?" Vielleicht nicht, möchte man antworten. Aber ist dies denn überhaupt ihre Aufgabe?

Roches Kunstverständnis steht offenkundig in der Tradition der Weimarer Klassik. Ein Kunstwerk ist ein organisches, harmonisches, selbstzweckhaftes Ganzes, das verborgene Aspekte der Wirklichkeit, mitunter sogar das Absolute selbst zur sinnlichen Darstellung bringt. Inhalt und Form stehen dabei in einem Wechselspiel, das zu untersuchen Aufgabe der Literaturwissenschaft ist, die aber, so Roches durchaus berechtigter Vorwurf, meist nur die eine Seite auf Kosten der anderen fokussiert. In Kunst und Literatur verbinden sich Ideal und Material, Universalität und Partikularität, Wahrheit/Geist und Sinnlichkeit. Letztere ist es auch, die sich auf imaginative, emotionale und unterbewusste Teile der Rezipientenseele richtet und diese mehr zu bewegen vermag als bloße Argumente.

Der Widerspruch, der hier entsteht, fällt Roche zwar auf, doch spielt er ihn mit Hinweis auf die extraordinären Qualitäten der Kunst herunter: Denn einerseits soll Kunst zweckfrei sein und anders als alles andere in unserer von Wirtschaft und Technik beherrschten Gesellschaft nicht als Mittel dienen. Doch andererseits haben Kunst und Literatur die Möglichkeit, im Leser zwanglos-spielerisch Tugenden und Werte wie Mut, Anerkennung, Bescheidenheit usw. (warum diese und keine anderen?) wachzurufen, kurz: aus ihm einen besseren Menschen zu machen. Und weil sie diese Möglichkeit haben, sollen sie sie auch zu realisieren versuchen, um im Zeitalter der Technik moralisch legitimiert zu sein - womit die Kunst prompt selbst zum Mittel moralischer Zwecksetzung wird.

Der "ästhetischen Erziehung des Menschen" dient Literatur, wenn man Roche folgen will, auf tausenderlei Weise. Wie ein mit allen Wassern gewaschener Gebrauchtwagenhändler zählt er seinen Lesern unermüdlich wohl sämtliche Vorzüge und Qualitäten der Literatur auf, die jemals zu ihren Gunsten ins Feld geführt wurden. "Da wir komplexe Kunstwerke sorgfältiger und mit mehr Mühe rezipieren müssen als vieles, was uns sonst beschäftigt, schärft die Rezeption von Kunst unsere kognitiven Fähigkeiten", heißt es da. Literatur als Denkschule also? Oder: "Durch die Literatur lernen wir uns selbst auf ganz neue, bislang nicht bekannte Weise kennen." Oder: "Das Organische in der Kunst [...] bildet nicht nur ein Gegenmodell zur Technik, sondern es ist ein Spiegel der Ökosysteme, der organischen und komplexen Strukturen, die durch die Technik bedroht sind."

Gerne wüsste man angesichts solch treuherziger Bekenntnisse vom Autor, ob die Beschäftigung mit Literatur also ein Beitrag zum Umweltschutz ist. Oder gar ein Biologiestudium ersetzen kann. Aber natürlich ist solche Polemik billig zu haben. Denn irgendwie weiß man ja, was der Autor meint und dass solche Weisheiten, mitunter auch nur Plattitüden - irgendwie - nicht falsch sind. Richtig sind sie damit freilich noch nicht. Und: Wer hat es denn in Frage gestellt, dass Literatur auf ihre Leser positive Auswirkungen haben kann (auch wenn man sich selbst trotz jahrzehntelanger Literaturbesessenheit noch immer über den eigenen alten Adam ärgert, also offenbar verbesserungsresistent ist)? Anders gefragt: An wen wendet sich Roche eigentlich mit seiner Apologie der Literatur? An technikgläubige Literaturignoranten doch wohl nicht. Sondern offenbar an die literaturwissenschaftliche Kollegenschaft, deren Methoden (Formalismus, Culture Studies, Dekonstruktivismus u. a.) er mit zum Teil durchaus klugen Gedanken auf ihre Vor- und Nachteile hin abwägt und für die er (vielleicht nicht ganz so kluge) Leitlinien aufstellt, etwa dass sie sich um Allgemeinverständlichkeit bemühen und die Ästhetik des Kunstwerks selbst ins Zentrum rücken soll, anstatt sich um sekundäre Aspekte wie Produktion oder Rezeption oder gar um zweit- oder drittklassige Autoren zu bemühen, allein um origineller Forschungsthesen willen. Ob und inwiefern die Literaturwissenschaft aber an solche Leitlinien anschließen kann und will, bleibt abzuwarten.

Titelbild

Mark William Roche: Die Moral der Kunst. Über Literatur und Ethik.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
224 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406486517

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