In der Stadt des ironischen Möbelgeschäfts

Wolfgang Herrndorfs erster Roman "In Plüschgewittern"

Von Klaus Cäsar ZehrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Cäsar Zehrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Grundrezept ist schlicht, aber immer wieder wirkungsvoll: Man nehme einen hochsensiblen, seine Umwelt und sich selbst gnadenlos sezierenden, aber nur leidlich alltagstauglichen Ich-Erzähler, lasse ihn über Gott und die Welt reflektieren und dabei möglichst lapidar schildern, wie er an der Banalität der bürgerlichen Gesellschaft allmählich vor die Hunde geht. Es sind meist nicht die schlechtesten Erzählungen, die so gebaut sind, von Hamsuns "Hunger" über Salingers "Fänger im Roggen" bis zu Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W.". In der deutschen Popliteratur der vergangenen Jahre wurde es dann beinahe Pflicht, einen jugendlichen Schnösel von seinem leeren Leben aus Partydrogen, Szenebars und Designerklamotten plaudern zu lassen.

Damit, sollte man meinen, ist der Pfad bis auf Weiteres ausgetreten, und dementsprechend heikel das Unterfangen des in Berlin lebenden Malers und Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, seinen ersten Roman auf dem nämlichen Schema aufzubauen: Verkrachte Existenz fährt durch die Gegend, bleibt für ein paar Tage in Berlin hängen, kriegt auch dort nicht sonderlich viel auf die Reihe, fährt wieder weg und kommt schließlich offenbar - genau erfährt man's nicht -ums Leben, Klappe zu, Affe tot, Buch zu Ende. Kann das noch funktionieren? Es funktioniert. Es funktioniert sogar ziemlich gut.

Das liegt zunächst einmal daran, daß Herrndorf seinen Protagonisten sehr geschickt anlegt, als Helden und Antihelden zugleich, in gleichem Maße genialer Außenseiter und verkommenes Subjekt, klarsichtig und verwirrt, überlegen und überfordert, der die Defizite der anderen durchschaut, ohne selbst als positives Gegenbild zu taugen. Als er seine Großmutter kurz vor ihrem Krebstod ein letztes Mal besucht, registriert er hinter der sauberen, wohlanständigen Fassade so messerscharf wie mitleidslos den Verfall:

"Überall mufft es nach Urin und Medikamenten, aber es ist alles sauber aufgeräumt. Morgens und abends, erfahre ich, kommt immer Frau Timmermann, eine Pflegerin aus der Diakonie, und kümmert sich um den Haushalt. Ich stelle mir eine resolute Vierzigjährige mit kurzen braunen Haaren und knallbuntem Sweatshirt vor, die zu meiner Oma so Sachen sagt wie: ,Na, junge Frau, wie fühlen wir uns denn heute?' Sowas kommt bei alten Leuten an. Ich weiß das, ich hab das selbst mal gemacht. Oder: ,Das schöne Wetter habe ich extra für Sie mitgebracht!' Das ist dann die Krönung eines verpfuschten Lebens, am Ende noch mal so traktiert zu werden. Mit fünftausend Metastasen im Körper und eitrigem Ausfluß überall, und die Gesellschaft hält die Menschenwürde aufrecht, indem sie in bunten Sweatshirts hereinspaziert und unzumutbar redet."

Doch die Alternative, die ihm in den Sinn kommt, ist nicht gerade humaner:

"Ich könnte ihr ein Kissen aufs Gesicht drücken wie in Betty Blue oder in diesem anderen Film mit den Geisteskranken."

So tapert er, Gefangener seiner ständig abschweifenden Gedanken und Assoziationen, durch eine Welt, in der er sich nicht nützlich machen, die er aber auch nicht für sich gestalten kann. Erst in Berlin trifft er Geistesverwandte: Seinen Freund Desmond ("Wenn man Desmond in sieben oder acht Stücke hauen würde, könnte man ein paar ordentliche Geisteswissenschaftler aus ihm gewinnen. Aber so ist er praktisch kaum lebensfähig.") und vor allem Ines, zu der sich so etwas ähnliches wie eine Liebesgeschichte anbahnt: "Ines versteht alles, was ich sage, und ich verstehe alles, was sie sagt. Das klingt banal, aber das passiert mir nicht oft."

Aber wenn es passiert, so erzählt das Buch, dann in Berlin. So wie es nur in Berlin ein "ironisches Möbelgeschäft" gibt und brechend volle illegale Kellerkneipen, in denen die Theke aus einer Art Baugerüst besteht und von einem verrosteten Eisenrohr unter der niedrigen Decke Kondenswasser tropft. Herrndorf beschreibt als präziser Beobachter die nach wie vor angenehm ungeordneten Verhältnisse in dieser Stadt rund zehn Jahre nach der Vereinigung. "In Plüschgewittern" ist - neben anderem - ein Berlinroman aus der Undergroundperspektive, der keinen offiziellen Hauptstadtglanz und erst recht keinen saturierten Yuppie-Ennui a là Stuckrad-Barre enthält, dafür umso deutlicher nachvollziehbar macht, weshalb Berlin gerade wegen seiner Dauerkrise das Faszinierendste ist, was dieses ansonsten so geregelte Land zu bieten hat.

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Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern. Roman.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2002.
222 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3861505045

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