Hauptstadt des Tigerstaates

Manfred Kieserling beschreibt Singapur, nicht für Touristen oder Banker

Von Georg AmshoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Amshoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel ist griffig, aber er täuscht. Wer einen Reisebericht, einen etwas ausführlicheren Reiseführer oder ein Reisebuch mit ausführlichen Hintergrund-kapiteln erwartet, der wird nicht auf seine Kosten kommen. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen zu soziologischen, geschichtlichen und stadtplanerischen Aspekten der südostasiatischen Metropole. Denn deren ökonomische Krise, so der Klappentext, sei nicht unabhängig von den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen - dieser Rahmen zieht sich durch alle der zehn Beiträge, die zumeist von vor Ort lebenden Autoren beigesteuert wurden. Herausgekommen ist dabei ein Buch, das sich dem breiten Spektrum zwischen kolonialem Erbe und Globalisierung widmet.

Doch nicht immer ist dieser Spagat gelungen - oft kommt die Einbindung in den größeren Rahmen etwas zu kurz. Die Beiträge setzen eine gewisse Kenntnis von der Region voraus, ohne eine Einführung zu geben. Beispielsweise wird der große Nachbar Singapurs, Malaysia, nicht erwähnt - obwohl die Spannung zwischen beiden, die Konkurrenz trotz gleicher Wurzeln, oftmals prägend ist, teilweise sogar kurios anmuten. Und das nicht nur im Kampf um die (auch ökonomisch wichtige) Ehre, Heimathafen der größten asiatischen Containerschiff-Linie zu sein. So legen z. B. alle Flüge der malaysischen Fluggesellschaft MAS, deren Route irgendwie Singapur tangiert, eine Zwischenlandung in Johor Baru, der malaysischen Zwillingsstadt Singapurs am Ausgangspunkt der Brücken zum Inselstaat, ein - weil beide Flughäfen um die Trophäe des "größten Airports der Region" streiten. Zeittafeln fehlen dem Buch ebenso wie eine Zusammenfassung der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Stadtstaates. Die Schattenseite dieses beeindruckenden Aufschwunges, eine Entwicklungsdiktatur mit eingeschränkten Freiheitsrechten, wird nicht thematisiert. Stattdessen versucht das Buch durch ausführlichen Bezug auf einige Ereignisse der letzten Jahre Aktualität herzustellen - doch wer erinnert sich heute noch an Michael Fay, jenen jungen US-Bürger, der Autos mit Farbe beschmiert haben soll? Seine Verurteilung zu u. a. sechs Stockschlägen löste heftige Debatten in den USA aus - der Beitrag des Buches thematisiert nicht nur diesen Fall, sondern auch das Selbstverständnis und die Rechtstradition Singapurs. An diesem Kapitel merkt man jedoch auch, dass der vorliegende Band schon im Jahre 2000 erschienen und damit nicht mehr ganz aktuell ist - die Prügelstrafe für den Amerikaner fand, ähnlich wie die Hinrichtung eines Holländers, der mit Drogen im Transitbereich des Flughafens von Singapur gefasst wurde, auf dem Höhepunkt der Macht des Tigerstaates statt. Die gegenwärtige weltweite Wirtschaftskrise und der signifikante Bedeutungsschwund der ehemaligen asiatischen Wirtschaftswunderländer hätte heute wohl zu einem anderen Verhalten geführt. Dennoch: wer sich von diesen Einschränkungen nicht abhalten lässt, wird aus dem Band eine Fülle von Einsichten gewinnen.

Titelbild

Manfred Kieserling (Hg.): Singapur. Metropole im Wandel.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
256 Seiten, 11,65 EUR.
ISBN-10: 3518121138

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