Kinder, wie die Zeit vergeht

Das schnellste Buch der Welt hat sich Zeit gelassen

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

15 Uhr MEZ, der Schreibtisch ist aufgeräumt, der Bleistift gespitzt, das Lineal federt lustig zwischen den Fingern und dem gegengreifenden Daumen: Nervosität. Jetzt soll es kommen, das schnellste Buch der Welt, heute geschrieben, gesetzt, gedruckt, gebunden, ausgeliefert - und rezensiert. Das ist auch eine Fertigkeit, nicht gelesene Bücher zu besprechen und doch ein profundes Urteil abzugeben!

15.30 Uhr MEZ: Jetzt dürfte es aber kommen, das schnelle Buch. Hat es geschellt, nein? Ich sitze hier wie Steve Martin und warte auf FedEx. Vielleicht sollte man sich schon mal ein paar Gedanken machen, zum Beispiel über den Sinn und Unsinn kollektiv verfasster Bücher. Meist sind es ja Eintagsfliegen: "Das große Spiel oder Im Dickicht der Begehrlichkeiten", der Roman von Percy Warberger (alias Ernst Augustin, Harald Eggebrecht, Sten Nadolny und Michael Winter), ist schnell wieder vom Buchmarkt verschwunden; "NULL", das Projekt von Thomas Hettche, blieb ohne größere Resonanz; "Die Versuche und Hindernisse Karls", der Kollektivroman der Berliner Romantik (verfasst von Chamisso, Fouqué, August Wilhelm Bernhardi und Wilhelm Neumann), erschien erst lange gar nicht - bevor sich dann die Philologen Anfang des 20. Jahrhunderts kurz damit beschäftigten.

16 Uhr MEZ: Pünktlichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. Vielleicht sollte man sich noch ein paar Gedanken allgemeinerer Art machen, damit der Text am Ende nicht allzu dürftig ausfällt. Die Welt schaut auf uns, und die BBC hat angerufen! Wenn man doch nur Englisch könnte!

Mit dem Denken ist es nicht weit her. Schon gar unter Zeitdruck. Gibt es keinen Aufhänger? Wer macht mit, wer ist dabei? Carl Otto Conrady mit einem Vorwort: Aber Vorworte lese ich nie, da steht dann nur wieder drin, dass man Wolf Wondratschek nicht zur Mitarbeit gewinnen konnte. F. W. Bernstein steht ganz oben auf der Liste der Beiträger. F. W. Bernstein lese ich immer. Das könnte dann auch einen weiterführenden Gedanken ergeben, denn es ist doch so mit den Büchern: Neben solchen, die schnell vom Markt verschwinden und praktisch nur ihren Autoren erschienen sind, gibt es andere, denen die Auguren zwar ein kurzlebiges Dasein prophezeit haben, die sich aber immer wieder neu mit der Welt befreunden und ein erstaunlich anregendes Eigenleben führen. Dazu gehört zweifellos "Die Wahrheit über Arnold Hau" (1966), ein Steady-seller aus der Feder von F. W. Bernstein, Robert Gernhardt und F. K. Waechter und mittlerweile ein moderner Klassiker. F. W. Bernstein, die Stiftung Lesen und knapp 40 Autoren scheinen heute beweisen zu wollen, dass der Geist jenes unsterblichen Werkes, der sogenannte "Hau-Geist", noch immer quickfidel ist.

17.30 Uhr MEZ, heute, am Welttag des Buches: Binnen zwölf Stunden wollten sie, unterstützt von zehn Lektoren, "das schnellste Buch der Welt" produzieren, die Anthologie "Tempo". Bislang ist das Werk nicht in Sicht. Zellstoff ja, Zellstoff, wohin man sieht, rein, wie mit Chlorbleiche behandelt, bedruckt, beschnitten, gebunden, erst unter Leser und dann hinter sich gebracht. Steht alles längst da, nur das schnellste Buch lässt auf sich warten. Schnelligkeit ist gar keine Kategorie, wie nicht zuletzt das ideelle Hau-Kollektiv gezeigt hat, indem es das Prinzip "Tempo" in eine durch Ewigkeit überwundene Zeitlichkeit übersetzte: "Wie spricht der Papst die Heiligen heilig? Eilig, eilig. / Und ist ein solches Tun verzeihlich? Freilich, freilich."

17.32 Uhr MEZ: Bingo, es ist da. The Postman Always Rings Twice ... Es hilft nichts, wir werden das Manuskript aufteilen. Lese ich vielleicht doch das Vorwort? "Gleich - gehts - - los", hieß es bei Rainald Goetz, und noch ein Halbzitat aus "Abfall für alle": 'Los gehts. Mittwoch, 23. 4. 03, Sonnentag, Marburg, ganz am Anfang':

War schon mal jemand schneller? Am schnellsten war Carl Otto Conrady, Doyen der Deutschen Literaturwissenschaft, Herausgeber der wichtigsten Lyrikanthologie nach 1945 ("Der große Conrady") und selber Lyriker ("Wörtertreiben"). Er hat vorgearbeitet und sein Vorwort bereits Mitte März verfasst: Er spricht es in die Zukunft hinein, nennt die Aktion ein "kreatives Abenteuer" und vergisst auch nicht den Spott zu erwähnen, den dieselbe im Blätterwald hervorgerufen hat. Ist das schon gemogelt oder noch mit den Spielregeln vereinbar?

Bei den zahlreichen Internetprojekten der letzten Jahre konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Autoren dort ihrer Schubladen entleert hätten - wie ist es hier? Es beginnt prominent mit Günter Kunert - das Ziffernblatt über seinem Text ("geschwindigkeit ist keine hexerei") zeigt 8 Uhr 36, die Imprimatur erfolgte 9 Uhr 40:

"Der Wagen lag auf dem Dach in einem Graben, der so tief war, dass er von der Straße nicht eingesehen werden konnte. Auch Herr Kubalke lag auf dem Rücken und blickte auf seine Knie, die dicht vor seinem Gesicht verquer standen. Bin ich zu schnell gefahren?"

Gewindigkeit also, das ist das Thema (und eine schöne Abstraktionsleistung dazu). Herr Kubalke hatte es eilig, jetzt hat er alle Zeit der Welt. Kündigt sich sein Ende an? Wie lange wird er dort liegen, bis Rettung naht, unentdeckt, eingeklemmt, frierend? Kunert ist ein bedeutender Erzähler, zweifellos, doch hätte ihm etwas mehr Zeit gut getan. Mau ist sein Schluss: "Sollte es denn jetzt schon soweit mit mir sein, dachte Herr Kubalke, ehe er in einen ohnmächtigen Schlaf versank, von dem wir nicht wissen, ob er aus diesem jemals wieder erwacht ist."

4.000 Zeichen stehen jedem Beiträger zu, F. W. Bernstein bleibt deutlich darunter: Sein Dialog ("wie der stau behoben wurde") lief um 9 Uhr 46 ein und wurde kurz vor zehn imprimiert. Inhaltlich schließt er nahtlos an Kunert an, doch er verdichtet:

"Also bitte: was ist denn?

Was heißt hier 'immer mit der Ruhe'

RUHE - wenn ich das schon höre!

RUHE SANFT - dann ists zu spät!"

Während bei Kunert das Ende offen bleibt, wählt F. W. Bernstein das entschiedene Aus: Sein Auto-Pilot hebt ab, dem Geier gleich, mit "Wind im Gewand", den morgenschlossen Wolken entgegen: "Bin ich der Erdenschwere HUIIIII enthoben, / Macht Euch auf was gefasst, ja Ihr da oben! / Ich komme!"

"tod und timing" nennt Roland Hüve seinen Text, auch er schließt sich wunderbar an und ist, wie Bernstein, dialogisch strukturiert. Es folgt, man kann's nur überfliegen, Christian Pfarrs "sonata in blue", gefolgt von Jürgen Nenz das Gedicht "tempo oder schnelle wm-staffel".

Wie rezensiert man Anthologien? Es ist immer eine undankbare Aufgabe: Romane, ja, Gedichtbände, her damit, Erzählsammlungen, meinetwegen, aber Anthologien?

Tempo als Thema, eigentlich ein irrwitziges Unterfangen, was soll man dazu sagen, was soll einem dazu einfallen? So richten sich auch die meisten der Texte profan an dem aus, was einem zuerst in den Kopf kommt: das unaufhaltsame Vergehen der Zeit und ihre Überwindung. So hetzt man durch die Texte, als Autor und als Leser, "schnell, schnell" dröhnt es einem unaufhaltsam entgegen. Den weitaus interessantesten Zugang findet Tanja Dückers in ihrem Beitrag "Die Badekappe". Hier geht es zwar auch um das Verrinnen der Zeit, aber auf ungemein charmante Art. Die Geschichte ist recht einfach: Die Wohnung der Großmutter soll ausgeräumt werden, die tausenderlei Sachen werden ihr aber zur letzten Entscheidung vorgelegt. Die doch schon etwas hinfällige Dame stellt denn auch das Thema auf den Kopf: Mit unendlicher Langsamkeit fallen ihr Erinnerungsbruchstücke und längst verflossene Mitmenschen ein. Sie erzählt von den letzten Tagen, die sie in Königsberg verbrachte, von ihrer Schulfreundin Erika, von einem unvergessenen Verehrer. Unbeeindruckt von ihren gehetzten Angehörigen schafft sie eine ruhig fließende Atmosphäre, und der vertrocknete Blumenstrauß, die alten Hefte entfalten eine Poesie ganz eigener Art.

Auf eine zwar nahe liegende, aber in der Hektik gar nicht in Betracht gezogene Variante kommt Thorsten Krämer: Er berichtet von Arnold Loetsch, dem Mann, der so gar nichts mit der Zeit zu schaffen hat, sondern schlicht die weltweit größte Papiertaschentuchsammlung der Welt besitzt, "Tempo" eben. Ein verblüffend einfacher, dafür aber um so schönerer Ansatz. Es sind also gerade die kontradiktorischen Dinge, die aus der Masse der schnell verfassten Texte wohltuend hervorstechen.

"... jetzt sind es wahrscheinlich nur noch 40 Min. und dann soll dabei Literatur entstehen?" fragt Zehra Cirak in ihrem Beitrag zum schnellsten Buch der Welt, eine berechtigte Frage. Zumindest: Was für eine Art Literatur entsteht, wenn die Autoren gerade mal zwei Stunden Zeit haben, um ihre Gedanken zu sammeln, zu ordnen und zu formulieren? Die naheliegende Antwort auf diese Frage: gehetzte, getriebene Literatur, trifft - das Beispiel Dückers zeigte es bereits - nur für einen Teil der Beiträge zu. Auch Alexander Posch lässt in seinem Beitrag zunächst eine auffallend ruhige Sommergartenstimmung entstehen, die dann durch einen vorbeifahrenden Schnellzug kontrastiert wird - seine Art, auf das allen Beiträgen zugrunde liegende Thema einzugehen. Ein Sujet, das den Gedanken an Züge offensichtlich nahe legt - sicher eine angenehme Überraschung für die Deutsche Bahn als Sponsor des "schnellsten Buches". Auch Thomas Lang denkt an Züge, an eine Zugfahrt, auf der ein deutscher Chinese seine Mutter trifft - der Zusammenhang zum Thema ergibt sich wiederum über das bekannte Taschentuch, eine duftig-leichte Brücke, die sich viele Autoren gebaut haben. Andere Texte hingegen wirken tatsächlich etwas gehetzt, getrieben von einer Eile, die sich beim Lesen überträgt. Das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis dieses Experimentes um Autoren und Zeitdruck scheint zu sein, dass die Eile sie häufig dazu treibt, jene Gedanken zu Papier zu bringen, die sie beim Schreiben beschäftigen, die gewöhnlich aber unformuliert bleiben.

Geht es um Tempo, so werden viele Autorenhirne zu Autogehirnen. Große Jungs und Tempo - woran Männer bei diesem Stichwort denken ist klar: Autorennen, Verfolgungsjagden, Flucht à bout de souffle. Tempo heißt für sie Leben mit dem Blick in den Rückspiegel, meint Geschwindigkeit des Entweichens und eine Entfernung, die Rettung verspricht: vor dem Chef, besser: der Ex, der Frau, der Mutter. Das Kind - natürlich ein Sohn - im Schlepptau, ist Horst Eckert auf dem Weg in "ein neues leben", und Michael Wildenhain tritt die Flucht nach hinten an mit der Rückkehr in das alte wilde Leben der juvenilen Protestzeit vor dem Erwachsensein, Ort Gorleben/Wendland, um dort gegen das Tempo der Zeit "ohne eile" zu ruhen und zu angeln, natürlich mit Sohn. Tempo für die thirtysomethings offenbar - Eskapade mit Fluchthelfer.

Kein Wunder deshalb, dass mit Hans Werner Kettenbach mutmaßlich einer der ältesten teilnehmenden Autoren, sich erinnert, "tempo" bezeichne im Italienischen alle Zeit und - das Wetter und - Takt, wie auch das Gespür für letzteren.

Darauf spielt auch Burkhard Spinnen an mit der ironischen Miniatur (s)einer programmatisch gestörten Autorenlesung durch einen sich selbst therapierenden Zuspätkommer. Dem gelingt es, dass eigene Schamgefühl ob der Taktverfehlung unter Zeitdruck zu bezwingen; Autor Spinnen arbeitet noch daran, autopoetisch.

Der schnelle Schreiber sieht sich gern als langsamer Leser, wenigstens das, der liegend genießt und sich die Hände wärmt "unter der Decke". Heben kann sie Dierk Hagedorn erst nach musikalischen Stimulanzien und einer schnellen Autofahrt über Alleen und durch Pfützen, sich erfreuend "an dem Geräusch des am Bodenblech abperlenden Wassers". Gut, dass es Autos gibt, sonst hätte Mutti wieder die Last mit der Wäsche.

Ist den Beiträgen die Gehetztheit des Schreibens anzumerken, so finden viele darin auch ihr Thema. Stephan Porombkas Leitmotiv ist ein "Zug der Zeit in Lichtgeschwindigkeit". In ihm sitzt der, der seinen Text gerade schreibt. Dem Eiligen macht in John von Düffels "Tempo" die Deutsche Bundesbahn einen Strich durch die Rechnung: "Die Bahn war wie immer zu spät". Hartmut Pospiechs Prosaskizze trägt den Titel "Jetzt mal Tempo" und beginnt mit dem Satz: "Ich lasse mich nicht hetzen" und endet mit Tempos, womit wieder die Taschentücher gemeint sind. Bei Norbert Kron greift die Hetze in die Liebe ein: Liebe auf den ersten Blick, "der überstürzte One-Night-Stand, das Ja-Wort nach wenigen Wochen. Und die Frauen sagen, "er käme immer zu schnell". Kathrin Röggla montiert die sich überstürzenden Nachrichten des Tages zwischen 7.55 und 9.06 Uhr zusammen: über den Irak, über Nordkorea - und über das schnellste Buch der Welt.

Literatur - ein Spiel. Und die Regeln sehen vor, dass die Zeit von Spielen begrenzt ist. Das Spiel ist aus.

P. S.: An dieser Rezension haben Thomas Anz, Heike Glindemann, Lutz Hagestedt, Alexandra Pontzen und André Schwarz mitgewirkt. Anmerkung der Redaktion: Das Buch war am Tag seines Erscheinens, morgens um 10 Uhr bereits vergriffen.

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Tempo. Ein kreatives Abenteuer zum Welttag des Buches. 23. April 2003.
Herausgegeben von der Stiftung Lesen, dem Landpresse Verlag und dem Literaturhaus Köln.
Verlag Landpresse, Weilerswist 2003.
96 Seiten, 20,00 EUR.

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