Jonathan, Alex und das Stetl Trachimbrod

Jonathan Safran Foers Roman "Alles ist erleuchtet"

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist hochgelobt und sehr hoch bezahlt, der Debütroman des 25-jährigen New Yorkers Jonathan Safran Foer. Das weckt Zweifel und Vorsicht beim Lesen: Zu viele Hypes gab es in den letzten Jahren, zu viel Getue um Debüts junger, jüngerer und jüngster Autoren und Autorinnen. Der Roman "Alles ist erleuchtet" ist jedoch tatsächlich Literatur auf hohem Niveau, und das Lesevergnügen an dieser vielschichtigen Geschichte speist sich aus vielen Quellen.

Worum geht es? Ein junger Mann, Jonathan Safran Foer, in die Geschichte bugsiertes Alter ego des Autors, macht eine Kurzreise in die Ukraine und sucht anhand eines Fotos Augustine, die Frau, die während der Zeit des Nationalsozialismus seinem ukrainischen Großvater zur Flucht in die USA verhalf. Sein Übersetzer und Reiseführer ist Alexander Perchow, eine Schelmenfigur des 21. Jahrhunderts. Dazu noch Alexanders blinder Großvater und die Hündin Sammy Davis jr. jr., die sofort in Liebe zum Amerikaner entbrennt, obwohl dieser allergisch gegen Hunde ist. Alex, im Englischen eher ungeübt, aber unverdrossen von Amerika träumend, erhofft sich viel von dieser Begegnung mit einem echten Ami. Der jedoch ist nur genervt von der Ukraine: Sein Reisepass wird von der Hündin gefressen, es gibt für seine vegetarischen Essgewohnheiten keine passenden Gerichte, und Augustine bleibt für ihn ebenso unauffindbar wie das geheimnisvolle Trachimbrod, in dem seine Familiengeschichte ihren Anfang genommen hat (oder auch nicht).

Die drei Figuren stolpern durch die wenigen Stationen ihrer Reise, der Großvater schläft fast immer, die Hündin ist durchgehend anhänglich, die Verständigung schwierig bis unmöglich, Alexanders Übersetzungsleistungen fast eine Meisterleistung. Er radebrecht in erfundenen eigenwilligen Konstruktionen, sprachspielerisch und witzig werden so Redewendungen auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft:

"Hat die Zugfahrt Sie erfreut?", fragte ich ihn. "Mein Gott", sagte er, "sechsundzwanzig Stunden - zum Mäusemelken!" Das müssen amerikanische Riesenmäuse sein, dachte ich. "Konnten Sie Schnarcher machen?", fragte ich. "Was?" "Konnten Sie ein paar Schnarcher machen?" "Ich verstehe nicht." "Ruhen." "Was?" "Haben Sie geruht?" "Oh. Nein", sagte er, "ich hab kein bisschen geruht." "Was?" "Ich ... hab ... kein ... bisschen ... geruht."

Die Geschichte selbst wird von Alexander erzählt, der die einzelnen Episoden der Reise von Jonathan erhält und dann in Briefen jeweils kommentiert und ergänzt bzw. sie erst aufschreibt und an den Amerikaner weiterschickt. Dann ist da die Geschichte um das Stetl, in dem Jonathans Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter, nach dem Fluss Brod genannt, im Jahr 1791 aufgenommen wird. Hier wächst sie auf, hier tummeln sich jiddische Figuren in einem Panorama phantastischer Begebenheiten. Die Geschichte dieses Stetls und seiner Bewohner, allen voran die Schicksale von Brod und ihren Nachfahren, wird von Jonathan erzählt, ebenfalls in der Ich-Form: Er will auf diese Weise seine Familiengeschichte einfangen. Das Stetl, das später den Namen Trachimbrod erhält, wird 1942 von deutschen Soldaten vollständig vernichtet, die Reisenden finden nur Landschaft und Erinnerungen vor, deren Wahrheitswert individuell bleibt. Erinnerung und Fiktion sind untrennbar, fließen ineinander, die Suche nach Fakten verläuft erfolglos. Dafür jedoch offenbart sich auf der Reise eine andere Geschichte, die von Alexanders Großvaters.

Eingeschobene Aufzeichnungen aus der Chronik des Stetls offenbaren den Anfang und das Ende der Welt, präsentieren Träume und andere Missgeschicke - ein weiterer Aspekt des Romans, dessen ästhetisches Konzept auf Spannung und Niveau setzt. Witzig gebaut ist er, tragisch auch, brutal, poetisch, philosophisch, schelmisch und lüstern - nur am Schluss nimmt die Spannung etwas ab, als zu Vieles offen bleibt. Offen bleiben muss, folgt man dem Konzept der Erzählung, der zufolge Erinnerung immer Konstruktion ist, eben Fiktion im besten Sinne. Ein Auffinden der Wirklichkeit ist nicht möglich, daher bleibt die Suche nach den familiären Wurzeln eine Aufgabe der Phantasie.

Titelbild

Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
384 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462032178

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