Faden und Kette

Andrzej Stasiuks berüchtigtes Gefängnisbuch liegt in deutscher Übersetzung vor

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte, Kontinuität im Werk des Autors beschwörend, diese Rezension mit einem typischen Stasiuk-Zitat beginnen: "Wohin gehst du so?", fragt eine Stimme den fieberträumenden Häftling in der poetischen Rahmenhandlung. "Gehen geh ich, gehen geh ich, denn ich habe Faden und Kette des Gewebes von Zeit und Raum entwebt. Hörst du nicht das Krachen der zerreißenden Materie?"

Man könnte, auf Nummer sicher gehend, von der persönlichen Erfahrung sprechen, die diesem Buch zugrunde liegt. Stasiuk war Anfang der 80er Jahre nach einem Freigang nicht in seine Einheit der polnischen Armee zurückgekehrt und musste für 18 Monate in den Knast. Zudem könnte man Jerzy Pilch beipflichten. Der Feuilletonchef der "Polityka" und Autor fabulierender Romane mit autobiografischem Hintergrund nannte "Die Mauern von Hebron" eine Epiphanie aus der Zelle: "Stellenweise herrscht eine Unruhe, wie sie nur erstklassige Literatur hervorrufen kann".

Man könnte, die Bedeutung des Religiösen bereits in Stasiuks Debüt aus dem Jahre 1992 aufspürend, den Titel des Buches beleuchten. Hebron war, wie uns die Bücher Mose und Josua wiederholt mitteilen, eine sogenannte Freistadt. Hier konnten unglückselige Individuen, die einen unbeabsichtigten Totschlag, keinen Mord, begangen hatten, Zuflucht vor den Bluträchern der Sippe des Erschlagenen nehmen, bis die Gemeinde Recht gesprochen hatte. Ein Asyl für unschuldig Schuldige, das humane Gegenstück zu den Gefängnissen dieser Welt.

Oder man könnte, Glaube und Philosophie verbindend, an Boethius erinnern. Im Gefängnisturm zu Pavia schrieb er, auf sein Todesurteil wartend, den "Trost der Philosophie". Dem Gefallenen erscheint die Königin der Wissenschaft, die Gottes Vorsehung preist, verkleidet als schöne Frau. Die Häftlinge bei Stasiuk phantasieren sich, es muss gesagt sein, ihr tägliches Vergewaltigungsopfer ebenfalls als weibliche Schönheit: "Manka. Maryska. Marycha. Maria ... Maria Magdalena mit dem nutzlosen Penis."

Last but not least könnte man auf die klassische Moderne verweisen. Célines höllischer Aufschrei des geschundenen Individuums. Genets Glorifizierung des Gesetzesübertreters, die Schilderung der brutalen Hierarchie in der Gefängniswelt, das obszöne Vokabular. Und Becketts minimalistische Zellenspiele von der nackten, menschlichen Existenz. Alles finden wir bei Stasiuk wieder. "Es interessiert mich", erklärt der Autor, "wie sich die Konvention des Schreibens mit der Realität trifft."

Man könnte. Dennoch werden Leser das Buch angeekelt aus der Hand legen. Andere werden darüber nicht schlafen können und grübeln, wie derselbe Autor die gleißend schöne "Welt hinter Dukla" hatte erschaffen können. Die brutale Vergewaltigung und der anschließende Mordversuch an einer im Delirium liegenden Mutter durch den eigenen, von einem Raubzug zurückkehrenden Sohn. Der detailliert beschriebene Geschlechtsverkehr von Gefängnisinsassen mit Katzen und Schweinen. Seitenlange Auslassungen über Praxis und Bedeutung von Selbstbefriedigung und Selbstmordversuchen im Knast. All das und noch viel mehr erzählt im derben Argot aus der Perspektive eines Schwerverbrechers - "Die Mauern von Hebron" sind ein starkes Stück.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Die Mauern von Hebron.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
160 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123025

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