"Natur - x": die Dreyfus-Affäre durch das Temperament Zolas gesehen

Zu der von Alain Pagès herausgegebenen Dokumentation

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spricht man in Frankreich von "l'Affaire", weiß man sofort, es geht um Dreyfus - und damit um den linken Gründungsmythos der Republik. Direkt oder indirekt bewirkt die Affäre die Trennung von Kirche und Staat, die Entstehung des Zionismus. Sie gilt als Geburtsstunde des modernen Intellektuellen und kann als Initialzündung für den internationalen Aufstieg des Antisemitismus im 20. Jahrhundert gesehen werden. Sie bewirkt dessen enge Verbindung mit der Rechten, wohingegen sich in ihrem Verlauf der linke Antisemitismus in Frankreich weitgehend auflöst. Sie zieht Attentate, den Sturz von Regierungen, Duelle, Selbstmorde, Putschpläne und -versuche nach sich, gibt ganzen Juristenkohorten über Jahre hinweg reichlich Arbeit in ungezählten Prozessen und entzweit nicht nur die französische Öffentlichkeit, sondern die weiterer europäischer Länder und darüber hinaus Kollegen, Freunde und Familien. Schließlich gibt sie, dem Forscherfleiß von Generationen zum Trotz, in einigen Punkten bis heute Rätsel auf. Kein Ereignis im politischen Leben Deutschlands erreichte auch nur annähernd die Bedeutung der Affäre Dreyfus für Frankreich.

Niemandes Name nun ist mit ihr so eng verknüpft wie der von Emile Zola, dessen weltberühmter Offener Brief an den Präsidenten (13.1.1898) unter der Schlagzeile "J'Accuse" dem 20. Jahrhundert als Modell und Ikone intellektuellen Engagements gilt. Seine Attitüde, sein Stil und einige zentrale Formulierungen aus ihm ("Ich klage an") imitierte und zitierte man immer und immer wieder, hielt man doch diesen Offenen Brief für eines der politisch folgenschwersten und erfolgreichsten Schriftstücke der Moderne. Zola habe mit "J'Accuse" die Wende in der Dreyfus-Affäre sowie ihr glückliches Ende bewirkt und damit ein modernes, weltoffenes Frankreich gerettet. Es ist der Wunschtraum, das schöne Märchen von der Zauberkraft des künstlerischen Wortes.

Daß die Rehabilitation von Dreyfus etwas komplizierter und sehr viel langwieriger vor sich ging, haben Experten wie Bredin, Duclert, Pagès längst dargelegt, was an der simplen Fassung des linken Lieblingsmythos allerdings wenig modifizieren oder differenzieren konnte. Wer läßt sich schon gern seiner heroischen Herkunft berauben?

Am Denkmal des mutigen Verfassers der "Rougon-Maquart" will die Textsammlung von Alain Pagès "Emile Zola. Die Dreyfus-Affäre. Artikel - Interviews - Briefe", die zum hundertsten Jahrestag von Dreyfus' Verurteilung in Frankreich erschien und (mit einigen Ergänzungen) auf Deutsch vorliegt, gar nicht kratzen: "Dieser Kampf ist auch heute noch der unsere." So pathetisch schließt Pagès seine profunde Einleitung und reiht sich damit ein in die seit damals ununterbrochene Tradition linken intellektuellen Engagements.

Es folgt glücklicherweise keine säkulare Hagiographie, wie zu befürchten wäre, sondern vielmehr eine klug ausgewählte, durchweg gediegen, wenngleich knapp kommentierte und durch kenntnisreiche Zwischentexte verbundene Kompilation der wichtigsten Äußerungen Zolas zur Affäre. Schon die Präsentation dieser vielen heterogenen Dokumente verdient allen Dank, beendet sie doch endlich die Fixierung auf "J'Accuse". Schließlich publizierte Zola allein zwischen 1897 und 1900 acht weitere Offene Briefe (sieben davon versammelt dieses Buch), die damals kaum weniger Furore machten.

Die Mixtur von Artikeln, Interviews für in- und ausländische Zeitungen und Briefen an seine Mitkämpfer, an seine Frau, seine Geliebte und seine Kinder verfeinert, vertieft das bisher eher holzschnittartige Porträt vom selbstlosen Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, und erstmals wird hier die emotionale mit der rationalen Dimension seines Handelns durch die intimen wie öffentlichen Details unmittelbar erfahrbar.

Wie schnell Zola vom distanzierten Beobachter, der zwar die antisemitische Hetze eines Edouard Drumont verabscheut, den Skandal aber eher als literarisch reizvolles Gebilde goutiert, zum dogmatischen Kämpfer für die Dreyfusards wird, ist schon erstaunlich. Nach einem Gespräch (Ende 1897) beim Senator Scheurer-Kestner, der ihm wichtige Dokumente zeigt, erkennt er die Möglichkeiten, die in diesem Kampf gegen einen Justizirrtum liegen: er kann ihn steigern zu einem fundamentalen Kampf zwischen Reaktion und Moderne. Zwischenpositionen, Kompromisse, Relativierungen akzeptieren er und seine Mitstreiter, die Dreyfusards, nicht. Sie reklamieren für sich, das Frankreich der Menschenrechte, der Toleranz, der Säkularisation, der Weltoffenheit und des Patriotismus, der Wahrheit und Gerechtigkeit zu vertreten und verurteilen alle Andersdenkenden als Nationalisten, Militär- und Kirchenknechte, als Antisemiten, ja als Böswillige, Schwachsinnige oder Verbohrte: "Es gibt keine einfachere Geschichte", schreibt Zola in seinem Offenen Brief an die Jugend (Dezember 1897) über die Affäre und fragt rhetorisch: "Müßte ein bißchen gesunder Menschenverstand nicht genügen?"

Dabei führten beide Parteien starke Argumente ins Feld. Unmöglich konnten die Zeitgenossen das Geflecht von Lügen, Halbwahrheiten, taktischen Behauptungen, echten und gefälschten Beweisen entwirren, zumal etliches Material, manche Handlung geheim gehalten wurde! Mit vollem Recht konnte man die Propaganda der Dreyfusards wie ihrer Widersacher, der Antidreyfusards, als Angriff auf die unabhängige Rechtsprechung, auf die Integrität von Gesellschaft, Staat und Armee verurteilen.

Schwer erträglich liest sich deshalb heute die selbstgerechte Märtyrerprosa, das Pathos der Unfehlbarkeit ("Ich weiß die Wahrheit"), wie es Zola nach kurzer Zeit im öffentlichen und im privaten Diskurs pflegte, wobei man zu bedenken hat, daß der Übersetzer, wie er anmerkt, trotz Wahrung der "Patina" die Texte für heutige Rezipienten "lesbar" gemacht habe, also den Ton etwas herabstimmte. So im Offenen Brief "An Frankreich" (Dezember 1897): "Und weißt Du, Frankreich, wem Du noch verfällst? Der Kirche! Du fällst in die Vergangenheit zurück, in jene Zeit der Intoleranz und der Theokratie, die zu bekämpfen und zu beseitigen die berühmtesten Deiner Kinder ihr ganzes Denken und ihr ganzes Blut aufgewendet haben. [...] Freilich, das Volk ist immer noch ungläubig, aber die Intoleranz des Mittelalters wieder aufzunehmen, Juden auf öffentlichen Plätzen verbrennen zu lassen, das ist doch der Anfang des Glaubens! Das Gift ist also entdeckt, und wenn man einmal aus dem Volk Frankreichs einen Fanatiker und Henkersknecht gemacht hat, wenn man ihm seinen Großmut und seine Liebe zu den so schwer erkämpften Menschenrechten aus dem Herz gerissen hat, dann wird Gott ja wohl den Rest besorgen." Die katholischen Priester und Zeitungen waren tatsächlich in die antisemitische Hetze verwickelt, aber deshalb gleich Scheiterhaufen als Leuchtfeuer des Glaubens brennen zu sehen, erscheint überzogen und in einer Situation schwelender gesellschaftlicher Konflikte nicht ungefährlich. Schlimmer noch ist, daß Zola den Gegnern unterstellt, sie handelten unter direkter Kontrolle Roms ("Brief an den Senat", Dezember 1900). Einer Verschwörungstheorie, die er bei den Antidreyfusards in "Das Syndikat" (Dezember 1897) als absurdes Propagandagespinst entlarvt hatte, verfällt Zola selbst, wenn er eine putschlustige Koalition aus "Weihwedel" und "Säbel" verantwortlich macht für die Dreyfus-Affäre. Nicht umsonst empfanden maßgebliche Dreyfusards wie Scheurer-Kestner Zolas Vorgehen als schädlich für die Sache, weil durch seine Ideologisierung, Emotionalisierung und Dichotomisierung des Konfliktes, durch seine polemischen Pamphlete vorsichtiges oder vernünftiges Vorgehen fast vollständig verhindert wurde.

Überhaupt kann man der Sammlung entnehmen, wie die Auseinandersetzung nach der Publikation von "J'Accuse" zu einer Affäre Zola wird, in der dessen publizistischer und juristischer Opfergang, der wahrlich nicht einfach und ungefährlich war, den unter unmenschlichen Haftbedingungen leidenden Dreyfus auf der Teufelsinsel beinahe aus den Schlagzeilen der Zeitungen und, wesentlich peinlicher, aus dem persönlichen und öffentlichen Schreiben Zolas verdrängt.

Solch kritische Beobachtungen erlaubt die Anthologie, wiederum verdienstvoll, entgegen der Absicht des Herausgebers Alain Pagès sowie des österreichischen Übersetzers und Zola-Experten Karl Zieger, die den Dichter als moralisch-politisches Vorbild mit menschlicher Tiefe präsentieren wollen. Durch ihre kluge Konzentration auf Zola, seine Entwicklung, sein Verhalten während der Affäre, mehr noch auf die Rolle, die er teils unfreiwillig, teils wohlwollend übernimmt, erkennt man alle Stärken und Schwächen intellektuellen Engagements.

Wie kurios nehmen sich allein die vielen sakralen Metaphern und Worte aus in den Schriften eines radikalen Kirchengegners: Er selbst ist ein "Märtyrer", wird durch seine Bestrafung nur "erhöht", Dreyfus hat "der ungerechte Schmerz zu einem Heiligen gemacht", der, "vom Kreuz genommen", mit "Messerstichen durchbohrt" wird, dem "Galle und Essig auf seine Wunden gegossen" werden. Schließlich die Himmelfahrt des Hauptmanns: "Das Schicksal erfüllte sich, der Unschuldige wurde zum Gott, damit der Welt ein unvergeßliches Beispiel gegeben werde." (Offener "Brief an Madame Dreyfus", September 1899)

Es geht hier weniger um den Zwang, in der massenmedialen Öffentlichkeit deutliche Worte zu verwenden, weniger um den salbungsvolle Ton zeitgenössischer Rhetorik (die in Frankreich immer eine wesentlich höhere Bedeutung hatte als in Deutschland). Vielmehr geht es um die Eigendynamik des Kampfes für große Ziele, die bewirkt, daß eine Opferung scheinbar nachgeordneter Werte (Wahrheit, Respekt, Toleranz) hingenommen wird. Der große Zweck heiligt, wie so oft in diesem Jahrhundert, manchen intellektuellen Sündenfall. Und wie groß der Zweck war, bekennt Zola - durchaus selbstkritisch - im Rückblick: "Im Vertrauen auf die Wahrheit warteten wir [die Dreyfusards] auf den Triumph. Es sollte eine Apotheose der Gerechtigkeit sein, das aufgeklärte Volk sich massenhaft erheben und Dreyfus bei seiner Rückkehr nach Frankreich zujubeln, das Land würde sein reines Gewissen wiederfinden, der Gerechtigkeit einen Altar errichten und das Fest der Wiedererlangung des erhabenen und souveränen Rechts feiern. Das alles würde in einer weltumspannenden Umarmung enden, alle Bürger wären beruhigt und in menschlicher Solidarität vereint." Wer sich solcherart legitimiert sieht, ist blind für eigene Fehler, für Gegenargumente und Alternativen.

Mit dieser herben Kritik soll (und kann) gar nicht der Stab über Zola gebrochen werden, der inmitten eines politisch-juristisch-sozialen Tohuwabohu dem Handlungszwang folgte und, nachdem er sich entschieden hatte, alles daransetzte, das für wahr und gerecht Erkannte unter Einsatz seiner Person zu unterstützen. Es gehörte viel Mut dazu, den Prozeß auf das eigene Haupt zu ziehen, um einen möglicherweise Unschuldigen zu retten, selbst ins Exil zu gehen, um einem Verbannten die Heimkehr zu ermöglichen. Aber über die mangelnde Intelligenz derer, die trotz ihrer Distanz das komplexe Geschehen als simple Legende vom heiligen Intellektuellen in ihr Stammbuch schrieben und daraus Absolution für ihr eigenes sacrificium intellectu ableiteten, darf man spotten und klagen.

Als Zola die fast elfmonatige Verbannung Zeit zum Innehalten und Nachdenken gab, relativierte er selbst so manche seiner eher blauäugigen denn idealistischen Positionen. Nicht nur deshalb lohnt sich besonders die Lektüre der Briefe aus England. Sie gehören - natürlich neben denen von Dreyfus selbst - zu den rührendsten und menschlichsten Zeugnissen in dieser chronique scandaleuse: "Ich erkenne mich selbst nicht wieder, ich hätte geglaubt, tapferer zu sein", gesteht Zola seiner Frau. Das "Abenteuer" der Flucht, die er antritt, um Zeit für weitere juristische Aktionen der Dreyfusards zu gewinnen, gerät für den 58jährigen, der kein Wort Englisch spricht, eine Auslieferung fürchtet und nur recht sporadisch Nachrichten aus Frankreich erhalten kann, sehr schnell zu einer qualvollen Geduldsprobe. Nach Monaten energischer Aktivität für die Sache, weiß er sich nun in seinen Entscheidungen ganz abhängig von den Freunden in Paris und also zur Passivität verdammt; wie "auf einem anderen Planeten" fühlt er sich. Gleichzeitig bewegen ihn große Sorgen um seine Ehefrau Alexandrine und um seine Geliebte Jeanne mit den beiden Kindern, leidet er unter der Trennung von seinen Lieben, zu denen auch der "Herr Pin", eigentlich Pinpin bzw. "der Chevalier" gehört: "Wenn Herr Pin brav ist, dann streichle ihn schön," bittet er seine Frau. Tief trifft ihn in der Fremde die Nachricht vom Tod seines Lieblingshundes am 20.9.1898.

Das Emigrantendasein hat allerdings Vorteile, denn in der Abgeschiedenheit kommt er nach langer Unterbrechung durch die publizistischen Schlachten endlich wieder dazu, seinem Beruf nachzugehen und an dem neuen Roman "Fecondité" zu schreiben, der in regelmäßigen vormittäglichen Arbeitssitzungen schnell wächst, so daß er im Mai 1899 bereits als Vorabdruck in "L'Aurore" erscheinen kann.

Zolas Rückkehr aus England wird kein Triumhzug, die erreichte Revision des Dreyfusprozesses kein Sieg der Gerechtigkeit (der Hauptmann wird erneut verurteilt und erst anschließend begnadigt). Das Verfahren gegen Zola gewährt keine Genugtuung, weil es immer wieder verschoben wird, bis es sich erübrigt hat. Weihnachten 1900 spricht man die Amnestie aller Beteiligten aus, um sozialen Frieden wiederherzustellen, sorgt aber damit nur dafür, daß die Parteien der Dreyfusards und der Antidreyfusards sich beide im Recht fühlen können und immer weiter miteinander ringen. Was sie im übrigen noch heute tun.

Im Gegensatz zu Zolas eigener, wesentlich umfangreicherer Sammlung seiner Dreyfus-Texte, "La Vérité en marche", die der Nachwelt eine stolze Bilanz präsentieren sollte, erleichtert die von Pagès / Zieger einen kritischen Zugriff auf Zeit, Person und Engagement des Schriftstellers. Nicht nur der Aufsatz über die Rezeption der Affäre in deutschsprachigen Zeitungen (Zieger), die Einführung, biographischen Angaben, Chronologie und Auswahlbibliographie (Pagès) tragen dazu bei, sondern ebenso die Photographien Zolas und die abgebildeten zeigenössischen Karikaturen.

Wer versteht, Texte gegen den Strich zu lesen und ab und zu den advocatus diaboli zu spielen, wer schließlich etwas distanziertere Darstellungen wie den exzellenten Ausstellungskatalog "The Dreyfus Affair. Art, Truth and Justice" von Norman L. Kleeblatt bei der Lektüre als Korrektiv heranzieht, dem erschließt sich mit diesem Buch eine ganz neue Sichtweise auf die Dreyfus-Affäre, gleichzeitig auf prototypische Implikationen massenmedialer Öffentlichkeit wie Personalisierung, Skandalisierung, Simplifizierung und Verlautbarungsstil, die heute den Meinungsmarkt beherrschen.

Titelbild

Alain Pages (Hg.): Emile Zola. Die Dreyfus Affäre. Artikel. Interviews. Briefe. Übersetzt und ergänzt von Karl Zieger.
Haymon Verlag, Innsbruck 1998.
320 Seiten, 33,20 EUR.
ISBN-10: 3852182654

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