Émile Zolas offener Brief "J'accuse" - die Wende in der Dreyfus-Affäre?

Ein Essay zur Urszene und Gründungsurkunde des Intellektuellen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

In der Nacht zum 13. Januar 1898 sehen Spätheimkehrer und Frühaufsteher in Paris Plakatierer bei der Arbeit, die überall in der Stadt Ankündigungen kleben, auf denen unter dem Kopf der kleinen liberalen Zeitung "L'Aurore" in Riesen-Lettern nur drei Zeilen stehen:

J'Accuse...!

LETTRE AU PRÉSIDENT DE LA RÉPUBLIQUE

Par ÉMILE ZOLA

Die Stadt gerät in Unruhe, Neugierige versammeln sich vor dem Redaktionsgebäude, um als erste ein Exemplar zu ergattern, hunderte extra angestellter Zeitungsjungen verbreiten sich über die Stadt und schreien die Sensation heraus: "Die Wahrheit über den Dreyfus-Prozeß!", "Zola klagt an!", "Machenschaften des Generalstabs" Innerhalb weniger Stunden verkaufen sie mindestens 200 000 Exemplare - das Zehnfache der Normalauflage. Bald wird die Nummer 87 von "L'Aurore" zu Schwarzmarktpreisen gehandelt. "Une veritable bomb" (Anatole France) ist explodiert und erschüttert das Land in seinen Grundfesten.

Gut drei Jahre vorher, am 15. Oktober 1894, wird der jüdische Hauptmann und Praktikant im Generalstab, Alfred Dreyfus, unter Spionageverdacht verhaftet. Am 22. Dezember fällt das Urteil - Degradierung und lebenslange Verbannung wegen Landesverrats "zugunsten einer fremden Macht". Am 5. Januar 1895 inszeniert das Militär ein beinahe archaisches Spektakel. Unter dem wütenden Schreien der Menge, inmitten eines Karrees von Abordnungen aller Pariser Garnisonen, reißt ein Gardefeldwebel Alfred Dreyfus die Rangabzeichen - Tresse für Tresse - von der Uniform und zerbricht seinen Säbel. Anschließend muß der Gedemütigte an allen Soldaten vorbeidefilieren. Am 22. Februar bringt man ihn auf ein Schiff, das Kurs auf die Teufelsinsel (Französisch-Guyana) nimmt.

Die Öffentlichkeit begrüßt allgemein den kurzen Prozeß, den die Armee mit Verrätern macht, lediglich einige Sozialisten und Antisemiten bedauern, daß keine Todesstrafe ausgesprochen wurde. Emile Zola, damals schon Mitglied der Ehrenlegion und zweifellos Frankreichs berühmtester Schriftsteller, nimmt nur Anstoß an der Degradierungszeremonie.

In den folgenden Monaten gelingt es dem Bruder des Verurteilten, Matthieu Dreyfus, mit Hilfe eines Stabs von Mitarbeitern Indizien zu finden, die einen Justizirrtum nahelegen. Langsam gewinnt er gewichtige Unterstützung. Bernard Lazare faßt 1896 alle Hinweise auf Dreyfus' Unschuld in einer Broschüre zusammen, die nicht nur in Frankreich, sondern international verbreitet wird und wütende Reaktionen der Rechten erregt. Im Lager der Antisemiten um Edouard Drumont, Verfasser des vielverkauften Machwerks "La France juive" (1886) und Herausgeber der Zeitung "La Libre Parole", verbreitet man die Legende vom "Dreyfus-Syndikat", von den "Dreyfus-Millionen", die eingesetzt würden, die Presse in ganz Europa zu kaufen. Erst jetzt entsteht mit der Bildung zweier Parteien - der Dreyfusards und der Anti-Dreyfusards - die Affäre.

Immer mehr Beweise tauchen auf, welche auf die Spur des eigentlichen Verräters, des Majors Charles Ferdinand Walsin-Esterhazy, führen. Doch weder interne Hinweise von Oberstleutnant Georges Picquart aus der Spionageabteilung, daß Esterhazy der Spion sei, noch offizielle Bemühungen des Senators Scheurer-Kestner beeindrucken die Verantwortlichen. In einer Zeit, da die Armee als nationales Heiligtum gilt, weil sie die Scharte 1870/71 auswetzen soll, scheut man die Wiederaufnahme des Spionageverfahrens nur eines Juden wegen. Überdies steht es um die Republik, die schwere Krisen schütteln, nicht zum besten; billige Massenblätter üben zudem erheblichen öffentlichen Druck auf die Regierung aus, keinesfalls auf die "jüdischen Manipulationen" zu reagieren. Eine Flut antisemitischer Hetzerzeugnisse in schier unglaublicher Gemeinheit ergießt sich in Form von Karikaturen, Spielkarten, Nippes, Spielen und Broschüren übers Land. Die große Mehrheit zweifelt nicht am Vorgehen von Staat und Militär und schon gar nicht an Dreyfus' Schuld.

Emile Zola gehört im Jahr 1896 noch nicht zu den zahlreicher werdenden Dreyfusards, doch stößt ihn die judenfeindliche Publizistik derart ab, daß er für "Le Figaro" im Mai einen Artikel "Für die Juden" verfaßt, in dem er die irrationale Verurteilung einer Minderheit geißelt und die Assimilation der Juden fordert. Der Name Dreyfus fällt noch nicht. Erst im Herbst 1897 überzeugt Scheurer-Kestner den Romancier von der Gerechtigkeit der Sache, die Zola von da an zu seiner Lebensaufgabe machen wird.

Schon lange ging es ja nicht mehr um Dreyfus allein, die Affäre galt als Symptom einer fundamentalen Staatskrise, zu deren Beilegung zwei gegensätzliche Konzepte verfochten wurden. Auf der einen Seite setzten die Anti-Dreyfusards auf die absoluten Werte Ordnung, Autorität und Nation, deren Kritik, zumal durch ein "jüdisches Syndikat", als Schwächung, ja Bedrohung Frankreichs verurteilt wurde. Viele plädierten für einen Kampf gegen die Republik und ihre Begünstigung von Freimaurern, Protestanten, Juden und Fremden überhaupt. Auf der anderen Seite standen die Dreyfusards für ebenso absolute, dafür aber übernationale Werte und Prinzipien ein - wie Demokratie, Menschlichkeit und Gerechtigkeit, deren Durchsetzung ohne Rücksicht auf partikuläre Interessen zu erfolgen habe.

Emile Zola beginnt im Herbst 1897 im eher neutralen "Figaro", auf vorsichtige Weise für eine Revision zu werben. Als viele Abonnenten daraufhin unter Protest kündigen, beendet die Zeitung die Zusammenarbeit. Zola verlegt sich deshalb auf die Herausgabe selbst finanzierter Broschüren und nützt dabei die Form Offener Briefe. Am 14.12.1897 veröffentlicht er einen "Brief an die Jugend", in dem er vornehmlich die Studenten auffordert, für die Menschenrechte und gegen Xenophobie zu streiten; am 6.1.1898 folgt der zweite, schon deutlich polemischere, "An Frankreich".

Immerhin erreicht man schließlich Ende 1897 einen Prozeß gegen Esterhazy, doch die Dreyfusards folgern aus der Verhandlungsführung, daß das Kriegsgericht sich ihren Erkenntnissen verschließen und einen Freispruch fällen könnte. Als das am 11. Januar tatsächlich geschieht, breiten sich unter den Verteidigern des jüdischen Hauptmanns Verbitterung und Lethargie aus, denn alle Rechtsmittel sind mit der offiziellen Entlastung des Schuldigen erschöpft. Die Regierung betont: "Es gibt keine Affäre Dreyfus!"

Erst vor diesem Hintergrund kann man die Wirkung von Zolas drittem Offenen Brief ermessen - einem Modellfall der Gattung. Durch die Publikation eines scheinbar privaten Briefs in der Zeitung weckt der Offene Brief voyeuristische Neugierde bei der neben dem expliziten Empfänger adressierten Öffentlichkeit. Gleichzeitig nutzt Zola ihn, um den Konflikt zu personalisieren. Er macht die Verteidigung von Dreyfus coram publico zu seiner eigenen Sache, verknüpft sie mit der Person des Präsidenten und nimmt diesen in die Verantwortung.

Offensichtlich schon Tage vor Esterhazys Freispruch hatte Zola den explosiven Text konzipiert, der einen neuen Weg freisprengen sollte. Um ein größeres Publikum zu finden, wendet er sich an die Zeitung "L'Aurore", deren Chefredakteur Georges Clemenceau die Sprengkraft von Zolas Vorgehen sofort erkennt. Er verzehnfacht die Auflage. Er läßt Plakate drucken. Er räumt ihm die gesamte sechsspaltige Titelseite ein und zwei weitere Spalten im Innenteil. Schließlich schlägt er vor, die achtmal wiederholte Formel des Schlußteils als Titel zu wählen: "J'accuse...". Niemand rechnet am 13. Januar 1898 mit diesem massiven, geradezu tollkühnen Angriff.

Erstmals wendet sich der erste Schriftsteller Frankreichs direkt und öffentlich an den "ersten Beamten des Staates". Erstmals werden die Schuldigen, ihre Motivation und ihr Anteil an der Schuld klar benannt. Erstmals vor allem konstruiert Zola aus der undurchschaubaren Affäre ein Drama, dessen Entwicklung, Höhepunkt und verweigerte Lösung er für jeden nachvollziehbar vorführt.

Sensationell wirkt die Sicherheit, mit der er seine Attacke vorträgt. Nach der konventionellen Briefeinleitung heißt es lakonisch: "Zuerst die Wahrheit über den Prozeß und die Verurteilung von Dreyfus." Als den "Hauptschuldigen an dem entsetzlichen Justizirrtum", als den "teuflischen Anstifter" klagt Zola in heiligem Zorn Major du Paty de Clam an. Dessen Untersuchungsmethoden seien wie die Anklageschrift geprägt von Inkompetenz, Manipulationen, Ränken und Erfolgsversessenheit, hätten aber den Generalstab, das Kriegsministerium und das Kriegsgericht von der Schuld des jüdischen Hauptmanns so überzeugt, daß sie sogar Entlastendes zu seiner Anklage verwendet und die Prozeßordnung verletzt hätten. Dann bringt Zola Licht in die "Affäre Esterhazy", also den Freispruch des Schuldigen: Die im eigenen Lügengespinst Gefangenen hätten es aus Korpsgeist nicht gewagt, reinen Tisch zu machen. Vielmehr habe sich der jesuitisch unterwanderte Generalstab der "Schmutzpresse" zu antisemitischer Propaganda gegen die Dreyfusards und zur Aufwiegelung der Öffentlichkeit bedient. Der Triumph einer dumpf-militaristischen Armeeräson über die Gerechtigkeit empört den Schriftsteller, der die Armee "liebt und achtet", aufs äußerste.

Felix Faure, der als Präsident in der Affäre keine amtliche Macht hat, fordert er auf, seiner "Menschenpflicht" zu gedenken - ein Appell, den er auch an jeden einzelnen richtet: "Erst von heute ab beginnt die Affäre, da heute die Stellungen klar erkennbar sind: auf der einen Seite die Schuldigen, die nicht wollen, daß Licht in die Sache komme, auf der anderen die Freunde der Gerechtigkeit, die ihr Leben daran setzen wollen, daß dies geschehe." Zola schließt die acht Abschnitte an, welche die Schuldigen und ihre Schuld an den Pranger stellen, und jeder beginnt mit "Ich klage an...": der Schriftsteller wirft sich in die Robe des Staatsanwalts. Pathos prägt den Brief und Polarisierung - hier die edlen Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, dort die Teufel, Betrüger und Geisteskranken. "J'accuse" will aufrütteln, arbeitet mit Vereinfachungen, rhetorischem Blendwerk und diffusen Drohungen.

Für die Gegner ist es eine ungeheuerliche Anmaßung, einen mißliebigen Urteilsspruch als Freispruch auf Befehl zu verleumden, und selbst gemäßigte Dreyfusards entsetzen sich wegen Polemik und Entschiedenheit des Offenen Briefs. Zweifellos aber sind plötzlich die Karten neu gemischt. Die Anhänger von Dreyfus fassen neuen Mut, erkennen sie doch Zolas Hauptabsicht, selbst angeklagt zu werden!

Nur in einem Zivilprozeß wegen Verleumdung, so seine Überlegung, konnte es gelingen, eine Revision auf Umwegen zu erzielen. Mit der Inkriminierung von "J'accuse" mußte auch dessen Thema, die Prozesse gegen Dreyfus und Esterhazy, wieder aufgerollt werden. Um sicher zu gehen, hatte Zola das Strafgesetzbuch konsultiert. Geradezu genüßlich zitiert er in "J'accuse" diejenigen Paragraphen, gegen die er verstößt, und endet: "Man wage es, mich vor das Schwurgericht zu stellen und die Untersuchung am hellichten Tage vorzunehmen. Ich warte."

Lange muß er nicht warten, denn am 7. Februar beginnt unter ungeheurem Presse-Echo und feindseligen Demonstrationen der Prozeß gegen ihn und den Herausgeber von "L'Aurore". Die Affäre Dreyfus wird zur Affäre Zola.

Trotz einer generalstabsmäßig organisierten Verteidigung wird Zola durch Reduktion der Anklage auf nur drei Passagen seines Offenen Briefes daran gehindert, Dreyfus oder Esterhazy zum Gegenstand seines Verfahrens zu machen. Während im Gerichtsgebäude der Prozeß sich der Verurteilung Zolas nähert, radikalisieren sich die Aktionen rechter Demonstranten. Die Menge schreitet zu tätlichen Angriffen, und unter dem Schlachtruf "Tod den Juden! Tod Zola! Tod Dreyfus!" greifen die antisemitischen Unruhen auf ganz Paris, die Provinz, sogar auf Algerien über; jüdische Geschäfte werden zerstört und geplündert, es gibt Tote.

Zola wird in erster und zweiter Instanz zu einem Jahr Gefängnis und 3000 Francs Strafe wegen Beleidigung des Kriegsgerichts verurteilt und anschließend zu einem weiteren Monat Gefängnis und je 11 000 Francs Strafe wegen Beleidigung und Vermögensschädigung der drei Schriftsachverständigen im ersten Dreyfus-Prozeß. Seine Rechtsberater bewegen ihn Mitte Juli 1898, nach England zu fliehen, um die Urteile nicht rechtskräftig werden zu lassen. Die mit Macht vorgetragene Attacke Zolas endet kaum ein halbes Jahr später in heimlicher Flucht - diesmal scheinen die Dreyfusards wirklich am Ende.

Da entdeckt ein Mitarbeiter des Kriegsministers, daß es sich beim wichtigsten Beweis gegen Dreyfus um eine Fälschung handelt, hergestellt vom Chef des Geheimdienstes Major Hubert Joseph Henry, der beteuert, aus patriotischen Motiven gehandelt zu haben. Am 30. August 1898 wird er verhaftet. Einen Tag später findet man ihn mit durchschnittener Kehle.

Das Lügengebäude von Generalstab und Geheimdienst scheint endlich zusammenzubrechen, als 1899 in Rennes die Revision beginnt. Unter internationalem Presseinteresse - im Ausland ist man mehrheitlich von Dreyfus' Unschuld überzeugt - und angespanntester Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit bestätigt das Gericht die Verurteilung wegen Landesverrats, allerdings mit "mildernden Umständen". Dieses Urteil, das es juristisch gar nicht gibt, eröffnet Dreyfus den Gnadenweg, den er trotz seiner Unschuld und dem Protest vieler Anhänger beschreitet, da ihn die Haftbedingungen auf der Teufelsinsel zermürbt haben.

Dieser Schachzug, dem die Regierung Waldeck-Rousseau vorgearbeitet hatte, führt zu einem Patt in der Öffentlichkeit, denn beide Parteien können zufrieden und unzufrieden mit dem Urteil sein. Um die Situation weiter zu beruhigen, beschließt das Parlament am 27. September 1900 ein Amnestiegesetz, das Zola allerdings wütend als erneute Rechtsbeugung und Verschleierung der wahren Tatsachen in einem letzten Offenen Brief angreift - wie in "J'accuse", nur daß er jetzt achtmal wiederholt: "Ich habe angeklagt...". Seine Forderung, diesen Anklagen nachzugehen, die Gerechtigkeit nicht der öffentlichen Ruhe zu opfern, bleibt vergeblich. Erst 1906 wird Dreyfus offiziell rehabilitiert (nicht jedoch von der Militärjustiz), und noch 1985 weigert sich die Armee, Dreyfus am Ort seiner Degradierung ein Denkmal zu setzen.

Wie aber entstand aus dieser Affäre der Gründungsmythos der Republik, wie aus Zolas Offenem Brief ein internationales Modell, dessen Titel allein schon Programm ist? Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, wäre eine Antwort.

Der schier unglaubliche gesellschaftspolitische Umschwung seit 1898 wird vor allem Zolas beispielhaftem Engagement und speziell seinem Offenen Brief zugeschrieben, denn kein Ereignis in der Dreyfus-Affäre zog so weite Kreise. Bis 1908 erreichen die vornehmlich links und liberal eingestellten Dreyfusards fast alles, was sie anstreben: Zola (der 1902 stirbt und den vollständigen Sieg nicht mehr erleben kann) wird ins Pantheon überführt, Dreyfus und Picquart rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen, Dreyfus dazu Mitglied der Ehrenlegion und Picquart Kriegsminister im Kabinett Clemenceaus. Die Republik stabilisiert sich und eine allgemeine Liberalisierung des Staates setzt sich durch bis hin zur Trennung von Kirche und Staat.

Zudem wird im Anschluß an "J'accuse" eine für das moderne Frankreich konstitutive Gruppe zu einer politischen Größe: die Intellektuellen. In den Wochen nach dem 13. Januar 1898 hatte "L'Aurore" gegen die Rechtsbeugungen der Affäre "protestations" veröffentlicht. Zu den über 2000, die unterschrieben, gehörte Emile Zola selbst, Anatole France, Marcel Proust, dazu viele Wissenschaftler, Publizisten, Studenten, die sich als geistige Elite verstanden. Sie verspottete der Anti-Dreyfusard Maurice Barrès als "intellectuels". Das hieß für ihn: ratiozentriert, instinktlos, politisch inkompetent, kosmopolitisch und also unpatriotisch, zersetzend und jüdisch oder mindestens jüdisch unterwandert - Vorwürfe, die im Laufe des 20. Jahrhunderts Stereotype der Intellektuellenschelte bleiben. Wie im Falle der Schwulen aber wenden die Denunzierten das Wort in ihren Ehrennamen um und prägen so ein international und bis heute einflußreiches Konzept, zu dem gehört, mit kritisch-rationaler Potenz, mit der Macht des Wortes und skeptisch gegenüber Autoritäten aufklärerische Ideale in der Gesellschaft durchzusetzen. Zola aber, der mit seiner gesamten Existenz für einen Unschuldigen in die Bresche sprang, der jahrelang die Literatur für die Publizistik aufgab, ist dem Intellektuellen Vaterfigur, "J'accuse" seine Geburtsurkunde. Es ist der Beginn einer Tradition politischen Engagements und moralischer Verantwortung der linken Intelligenz, ihrer Verankerung in der französischen Gesellschaft bis heute.

Von hierher rührt der Symbolwert von "J'accuse" als Reliquie der Republik. 1986 erklärte Frankreich das Manuskript zum nationalen Kulturerbe, erwarb es für 5 Millionen Francs und bewahrt es seither als Unterpfand demokratischer Tugend in der Bibliothèque Nationale.

Über der verführerischen Evidenz einer "großen Erzählung" (Lyotard) von der Geburt der Intellektuellen und der Rettung der Republik durch einen Offenen Brief sollte man jedoch nicht vergessen, daß am Anfang ein sacrificium intellectus steht.

Zolas Offener Brief entlastet nicht nur einen Unschuldigen, er baut auch Oberstleutnant du Paty de Clam als allschuldigen Popanz auf, den er dringend benötigt, um seiner Darstellung Stimmigkeit und menschliches Interesse zu geben. Zola konnte seine Anklage höchstens auf Indizien stützen, und gab die Geschichte ihm im Grundsatz recht, irrte er doch in entscheidenden Details. Nicht der Irrtum an sich ist das Problem, sondern die Präsentation von Vermutungen als "die schlichte Wahrheit".

"Es ist ein Verbrechen, daß man die öffentliche Meinung irreleitet..." schreibt Zola, während er es - mit den besten Absichten - selbst tut, indem er zu den Mitteln seiner Gegner greift: Simplifizierung, Polarisierung, Emotionalisierung, vor allem aber Psychologisierung und Individualisierung von Sachfragen. Dazu löste "J'accuse" gewalttätige antisemitische Aktionen aus und provozierte zusammen mit den Protesten der Intellektuellen den Umschlag eines passiv-diffusen Antisemitismus' in einen rassisch-politischen. Jenes Dilemma, mit der intendierten Wirkung gänzlich unbeabsichtigte Nebenwirkungen zu erzeugen, begleitet intellektuelles Engagement bis heute.

Die Versuchung, solche Effekte zu gering einzuschätzen oder im Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Ziels die Verantwortbarkeit des Wegs aus den Augen zu verlieren, ist groß und unser Jahrhundert voller Beispiele ideologischer Taktik, die das Schweigen über viele Untaten einschließt. "Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden", hatte schon Georg Büchner gewarnt. Als aktiver Revolutionär meinte er damit allerdings keinesfalls, man müsse dem Gegner die unfaire Kampfesweise überlassen und selbst in edler Gesinnung untergehen. Vielmehr fordert er die besondere Verantwortung derer, die professionell mit dem Wort umgehen, mahnt, die Wirklichkeit und die Wirkungen zu bedenken.

In nuce faßt der Komplex "J'accuse" wichtigste Problemlagen und Tendenzen der Moderne: die Bedeutung der öffentlichen Meinung, von Presse und Propaganda, das Recht und den Einfluß des Einzelnen gegenüber staatlichen Autoritäten, den Antisemitismus, den Faschismus (avant la lettre), die Stellung des Militärs in der Demokratie, die Internationalisierung und die Universalität von Menschenrechtsfragen, schließlich die soziale Rolle, den Einfluß und das Dilemma des Intellektuellen.

Von dessen Schweigen spricht man hundert Jahre später allenthalben - naturgemäß meist in Intellektuellenkreisen. Und erhebt einer, wie jüngst Günter Grass, seine Stimme, folgen Kritik wie Lob von unerwünschter Seite. Wehmütige Sentimentalität durchzieht viele Beiträge; Erinnerungen an das Heroenzeitalter des Intellektuellen, als das Schreiben noch geholfen habe.

Der Offene Brief wird gleichwohl weiterleben als angemessene Form, persönlich und doch öffentlich zu informieren, zu appellieren und vor allem Bekenntnis abzulegen, zu dokumentieren, daß man zu einem Thema nicht geschwiegen habe. Auch wenn nie wieder ein Offener Brief so gewaltig wirken sollte wie "J'accuse", von dem Anatole France bei Zolas Beerdigung sagte, er sei ein "für einen Augenblick das Gewissens der Menschheit" gewesen.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in "Die Zeit" und steht im Zusammenhang mit einer umfassenden Monographie des Verfassers zur Geschichte und Funktion des Offenen Briefes.

Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
300 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN 3-8260-1647-5