Lesen! Aber mit Genuss

Michael Schmitt über das Sendekonzept von Elke Heidenreichs neuer Sendung "Lesen!", die am 29. April 2003 im ZDF Premiere hatte

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespräch

literaturkritik.de: Herr Schmitt, Glückwunsch zur ersten Sendung! Wer verantwortet eigentlich das Konzept? Wie hoch ist der Anteil der Redaktion, wieviel kommt von Elke Heidenreich?

Schmitt: Danke für die Glückwünsche, die ich gerne an alle Beteiligten in dem kleinen Team weitergeben werde. Das Konzept ist vor längerer Zeit von Elke Heidenreich und von Marita Hübinger im Kern entwickelt und dann in unserem kleinen Team geschliffen worden. Darin sind verschiedene Erfahrungen mit Fernsehformaten, u. a. auch aus der "Kulturzeit" eingeflossen.

literaturkritik.de: Wer sucht die Bücher aus - und wer die Gäste?

Schmitt: Elke Heidenreich sucht aus, lädt ein und entscheidet letztlich; wir, Marita und ich, suchen auch aus - und alle zusammen diskutieren wir über die Früchte unserer Stöbereien ...

literaturkritik.de: Wer bestimmt, was in der Sendung, im Gespräch mit dem Gast, als Filmbeitrag läuft?

Schmitt: Da gilt das gleiche - hierbei redet natürlich auch der Gast ein entscheidendes Wort mit.

literaturkritik.de: Werden die Hausfrauen, an die sich die Sendung richtet, so spät noch einschalten?

Schmitt: Wer sind denn bitteschön "Hausfrauen"? ALDI-Verkäuferinnnen mit Halbtagsjob? Studienrätinnen im Mutterschaftsurlaub? Berufstätige, festangestellte oder freiberufliche Mütter mit Kind, etwa literarische Übersetzerinnen, EDV-Spezialistinnen oder Lektorinnen und Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen mit halber Stelle, die nebenbei ab und an eine Waschmaschine anwerfen und flankierend kochen und lesen? Die Frage ist explizit polemisch - das ist Ihr gutes Recht -, aber sie ist so durch gewisse soziologische Wandlungen kaum noch haltbar, oder? Könnte es sein, dass sie sich einer Bildungsattitüde verdankt, die sich einerseits ziemlich überlebt hat - und die andererseits als selbststabilisierende Defensiv-Haltung einer selbstreferentiellen Elite-Vorstellung fungiert?

Die Sendung richtet sich nicht an Hausfrauen, sondern an "Leserinnen und Leser" von denen man annehmen darf und möchte, dass sie gerne gute Bücher empfohlen bekommen möchten, als Erleichterung der Auswahl auf den Büchertischen - aber nicht mit den Gesten einer historisch-ästhetisch ausgefeilten Literaturkritik, die ihr Koordinatensystem ja weniger am "Lese-Genuss", sondern eher am Maßstab der Variation bekannter oder in der Ausarbeitung neuer sprachlicher Gestaltungsformen sucht ...

Wer außerhalb von Feuilleton-Seiten schon mal mit der "Vermittlung" von Literatur an einzelne Menschen face to face zu tun hatte, etwa im Buchhandel, der weiß, was das heißt - plastisch erzählen, worum es geht; plastisch klar machen, was womöglich der "Sitz im Leben" eines Buches - wenn man so will: der indirekte Nutzen der Lektüre - sein kann - sowohl auf der Ebene der Inhalte, wie auf der Ebene der Erzählweise.

literaturkritik.de: Hat die Sendung nicht Angst vor einem intellektuellen Profil?

Schmitt: Warum sollten wir kein intellektuelles Profil haben - nur weil wir ein anderes haben als meinetwegen Alfred Kerr oder T. S. Eliot?

Es gibt viele Wege über Bücher zu sprechen - sie existieren alle nebeneinander mit gleichem Recht und ohne sich gegenseitig überflüssig zu machen, denke ich und denkt das ganze Team - aber es gibt auch viele Sackgassen, in die alle möglichen Leute immer schon gerne hineingerannt sind und immer wieder hineinrennen werden ...

literaturkritik.de: Hat es Sinn, immer wieder Leute anzusprechen, die nicht lesen, die vorgeben, keine Zeit zum Lesen zu finden, die von den Programmen des Kunstmann oder des Diogenes Verlages gar nicht erreicht werden?

Schmitt: Siehe oben - und eine Gegenfrage: Was wissen wir denn schon über Leser? Wenn man nicht versucht, den Menschen, die den Ritualen der eingeweihten Kunstfreunde nicht folgen wollen, die Bücher nahe zu bringen, die in unseren Augen "Distinktion" besitzen - dann ist das allenfalls "self-fulfilling prophecy" - selbststabilisierend und defensiv.

Man kann Philip Roth, Tim Parks oder Italo Svevo auf viele unterschiedliche Weisen lesen - und genauso Nuala O'Faolain oder Saint-Exupery-man darf sie deshalb auch auf unterschiedliche Weise vorstellen und empfehlen. Die unproduktivste Art das zu tun wird aber immer darin bestehen, einen hohen Zaun darum zu bauen, der dem sogenannten unbedarften Leser sagt: Wenn Du dies und jenes nicht weißt und nicht nachvollziehen kannst, dann wird dieses Buch sich Dir nicht erschließen...

Was die Leser aus den Bücher rausholen, für sich ganz persönlich, das haben wir ohnehin nicht unter Kontrolle - und das muss man ja auch gar nicht im Detail wissen wollen. Wichtig ist, dass man zeigt, was es alles gibt... denn dem Leser ist das Verlagslogo zudem relativ egal. Und glauben Sie ernsthaft, dass Antje Kunstmann nicht auch an "Uneingeweihte" verkaufen möchte - und genauso wie wir auch nach Wegen sucht, wie man die ansprechen kann?

literaturkritik.de: Elke Heidenreich steht in der Sendung offenbar für lebensweltlich beglaubigte Begeisterung für Literatur. Wird sich diese Basis nicht sehr schnell verbrauchen?

Schmitt: Die verbraucht sich schon allein deshalb nicht, weil diese Lebenswelt ständig nachwächst und weil jeder einzelne Mensch immer neu durch den gleichen Sumpf durch muss.

literaturkritik.de: Kritik üben heißt auch unterscheiden, Kritik kann auch fördernd sein. Wo bleibt das Kritische der Sendung? Gibt es Pläne, Kritik auszubauen?

Schmitt: Wie schon gesagt: Das ist keine "literaturkritische" Sendung im Sinne von "hier wird Wertung durchsichtig gemacht und vorgeführt". Das ist eine Sendung, bei der Wertung vorab erfolgt ist und die dann das Ergebnis als Lese-Empfehlung an einen breiten Kreis weiterreichen will. Das mag mancher bedauern, aber das ist das Programm - andere Sendungen fahren da ja explizit einen anderen Kurs, mit genau dem gleichen Existenzrecht.

literaturkritik.de: Läuft der prononcierte Anti-Intellektualismus von Elke Heidenreich nicht ins Leere?

Schmitt: Wenn irgendwas nicht ins Leere läuft, dann das, was in dieser Frage als "Elke Heidenreichs Anti-Intellektualismus" bezeichnet wird... Das ist ja wohl über Jahrzehnte rein statistisch nachweisbar. Und was genauso nachweisbar sein dürfte, wenn man nur genauer hinschaut: Sie widmet sich weitgehend den gleichen kulturellen Hervorbringungen wie alle anderen Kritiker auch, will aber, wenn ich sie richtig verstehe, nicht "Literaturkritik als Untergattung von Literatur" hervorbringen, sondern eben: zum Lesen animieren.

literaturkritik.de: Wie groß ist der Schritt vom kopfnickenden Einverständnis der Wohlmeinenden, für gute Bücher einzutreten, zum gähnenden Quotenkiller?

Schmitt: Welche "Wohlmeinenden" meinen Sie? Die Resonanz auf die erste Sendung zeigt doch, dass es den Wunsch nach solcher Information zu geben scheint, und dass Elke Heidenreich einen Weg kennt, wie man darauf antwortet und Gehör findet. Man sollte halt nicht huldvoll von oben herab und also bevormundend "Bildungsgüter" vorführen. Man braucht Glaubwürdigkeit und ein Konzept, das nicht zum Gähnen anregt, dann ist so eine Sendung auch nicht nur abhängig von sentimentalen Reminiszenzen an das "Höhere". Jeder weiß doch: Bücher haben nicht viel Platz im Fernsehen; sie haben auch nicht viel Platz in der Öffentlichkeit. Und trotzdem war die erste Sendung ja nun wirklich kein Quotenkiller, ganz im Gegenteil - wie das weitergeht, werden wir alle miterleben ...

literaturkritik.de: Wir drücken die Daumen! Alles Gute Ihnen, dem Team und dem Konzept - und vielen Dank für die schönen Antworten auf die hässlichen Fragen. Wann ist die nächste Sendung?

Schmitt: Danke für die guten Wünsche, die können wir brauchen - und am 10. Juni 2003 versuchen wir mit "Lesen!" zum nächsten Mal unser Glück.

(Michael Schmitt ist Redakteur der Sendung "Lesen!" und vor allem für filmische Beiträge zuständig. Redaktionsleiterin ist Marita Hübinger. Das Gespräch führte Lutz Hagestedt. Die in der Sendung vorgestellten Bücher waren:)

Titelbild

Nuala O´Faolain: Nur nicht unsichtbar werden. Ein irisches Leben.
Übersetzt aus dem Irischen von Renée Zucker.
Rowohlt Verlag, Berlin 2000.
253 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3871343773

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. 2 CD´s in Metallbox. Limitierte Sonderauflage.
Übersetzt aus dem Französischen von Grete und Josef Leitgeb.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2001.
103 min, 12,95 EUR.
ISBN-10: 3491240581

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz.
Übersetzt aus dem Französischen von Grete und Josepf Leitgeb.
Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2003.
91 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3792000253

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Tim Parks: Doppelleben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Schulte.
Verlag Antje Kunstmann, München 2003.
440 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3888973236

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nuala O´Faolain: Ein alter Traum von Liebe. Roman.
Übersetzt aus dem Irischen von Marion Sattler-Charnitzky und Jürgen Charnitzky.
Claassen Verlag, München 2003.
543 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3546003055

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran.
Übersetzt aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker.
Ammann Verlag, Zürich 2003.
110 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3250600555

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
671 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3498009265

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nick McDonnell: Zwölf.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
240 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3462032283

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch