Dem Genie auf der Spur

James Wilson "Der Schatten des Malers"

Von Christine ProbostRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Probost

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der wenig erfolgreiche Künstler Walter Hartright erhält den Auftrag, die Lebensgeschichte des Malers William Turner zu verfassen, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England als künstlerisches Genie seiner Zeit galt. Was aber macht das Genie eigentlich aus, und wie lebt ein Mensch, der als Genie gilt? Mit dieser Frage beschäftigt sich James Wilson in seinem Debütroman "Der Schatten des Malers".

Hartright nimmt den Auftrag an und begibt sich mit Hilfe seiner Schwägerin Marian auf die Suche nach Spuren von Turners Leben. Schon bald zeichnet sich ab, dass Turner nicht nur ein erfolgreicher Künstler und Galerist, sondern auch Sonderling und Geizhals war. Die vielen widersprüchlichen Aussagen von Freunden, Feinden, Angestellten und engsten Vertrauten wecken in Hartright einen kaum zu bremsenden Forscherdrang. Doch je mehr er sich mit der Biographie Turners befasst, umso tiefer gerät er in einen Strudel aus Illusionen, Korruption und Verwirrung. In der Hoffnung, das Wirken Turners besser nachvollziehen zu können, beginnt Hartright Turner zu imitieren, um etwas von seinem außerordentlichen Talent zu erlangen. Muss ein Genie nicht ein ruchloses Leben führen, ein Doppelleben wie das William Turners, zwischen Villen und Hafenspelunken, Großzügigkeit und Geiz, Freundlichkeit und Brutalität?

Die Fährte, die Hartright verfolgt, um sich dem Ausnahmekünstler anzunähern, zeichnet Wilson in Briefen, Tagebucheinträgen und Notizen der beiden Protagonisten nach. Hierbei wechselt er zwischen den beiden Ich-Erzählern Marian und Walter, deren Gedanken sich wechselseitig ergänzen und für eine insgesamt innovative Erzählung sorgen. Jeder Brief und jede kleine Notiz geben nur wenig über Turner preis, somit befindet sich auch der Leser in einem ständigen Zustand der Suche. Und die Frage "Was ist Genie und was ist Wahnsinn" findet erst spät bzw. gar keine Klärung.

Zudem verdeutlicht Wilson durch die minutiöse Beschreibung einzelner Personen, Gemälde, Landschaften und Orte nicht nur das Leben im viktorianischen Zeitalter, sondern präsentiert ein farbenreiches Bild bzw. Kunstwerk der Zeit. Es ist ihm gelungen, in diesem Roman die Abgründe des genialen Geistes auszuleuchten und ein Abbild des Malers zu entwerfen, das dem wahren Turner, auf früheren Biographien beruhend, nahe kommt. Doch nicht nur diese Bildhaftigkeit, sondern auch das spannende, nie zuviel preisgebende Erzählen machen "Den Schatten des Malers" zu einem stimmigen Roman.

Titelbild

James Wilson: Der Schatten des Malers. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
512 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3458171282

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