Wer suchet, der findet

Tanja Dückers beobachtet seltene Wolkenformation

Von Gesa SteinbrinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Steinbrink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf Papier, "so leicht wie Wolken", soll die Verbindung zwischen Freia und ihrem Zwillingsbruder Paul noch einmal aufleben, noch einmal wollen sie zu der geradezu symbiotischen Einheit ihrer Kindertage zurückkehren, die sich auf dem Weg zum Erwachsenwerden allmählich auflöste. In aller Abgeschiedenheit wachsen die Geschwister am Rande Berlins auf. Zwischen Freia und ihrer in sich gekehrten, resignierten Mutter Renate herrscht Distanz und Unverständnis: Es gab "keine Reibung, kaum Kontakt". Erst viele Jahre später kommen sich die beiden zaghaft näher. Mit ihrem Vater Peter hingegen, dem Held dieser scheinbaren Idylle, unternimmt Freia lange Streifzüge durch den verzauberten Wald, wo ihnen Elfen und Waldgeister begegnen, zu denen sich der Vater besonders hingezogen fühlt. Zusammen mit Paul erfinden sie Geschichten und Fabelwesen, wie den "Silberlügenaal" oder das "Grübelmonster".

Den Freizeitbeschäftigungen ihrer Mitschüler hingegen können sie nur wenig abgewinnen; die Zwillinge leben in ihrer eigenen Welt, die ihnen unzerstörbar erscheint. Freias erste große Liebe verändert jedoch die innige Beziehung der Geschwister, und sie erkennen, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Während sich Freia den Wolken widmet, vertieft sich Paul in die Malerei. Eine Aufnahme von "Cirrus Perlucidus", durchscheinend, aber nicht durchsichtig, nur ein Hauch einer Wolke in 13.000 Meter Höhe, fehlt Freia noch zur Vervollständigung ihrer Doktorarbeit, einem Wolkenatlas, der erstmals auch diesen höchst seltenen Typus abbildet. Doch gilt ihre Sehnsucht mittlerweile nicht mehr nur dem Fetzen Luft, der sich so schwer einfangen lässt. Seit sie selbst ein Kind erwartet, beschäftigen sie noch ganz andere Gedanken. Was steckt wirklich hinter den ermüdend häufig erzählten Geschichten aus dem Krieg? Immer wieder hatte sie die wortreichen Ausführungen ihrer Großeltern von der Flucht aus Westpreußen gehört, in denen sich ihre sonst so stille, fast phlegmatisch wirkende Mutter mit scharfen Einwänden korrigierend zu Wort meldete. Nur knapp waren die Großmutter Jo und die damals fünfjährige Renate dem Tod entkommen: Statt mit der "Gustloff", bei deren Untergang mehr als 9000 Menschen umkamen, flohen sie mit einem Schiff für regimetreue Nazis. Im Begriff, selbst Mutter zu werden und somit die Familiengeschichte fortzusetzen, verspürt Freia den Drang, zu wissen, "in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest ich da mein Kind setze." Je tiefer sie in die beharrlich verschwiegenen Geheimnisse und pathetisch-geschönten Ereignisse eindringt, desto stärker verändert sich die Wahrnehmung ihrer vermeintlich vertrauten Familie. So müssen Erinnerungen, Relationen und Perspektiven überdacht und neu eingeordnet werden. Freia beginnt, allen Widerständen zum Trotz, eine Vergangenheit aufzurollen, die nicht ihre eigene ist, aber untrennbar mit ihrer Geschichte verbunden zu sein scheint.

Dass ausgerechnet Nobelpreisträger Günter Grass den Untergang der "Gustloff" in seiner 2002 erschienenen Novelle "Im Krebsgang" thematisiert hat, sei "ein großer Schock" für die Autorin gewesen. Doch habe sie sich von dieser etwas unglücklichen Koinzidenz nicht entmutigen lassen wollen. Die stoffliche Nähe zur Grass-Novelle ist überdies auch nicht das Problem des Romans. Vielmehr erschweren erzählerische Mängel die Lektüre, denn "Himmelskörper" kommt nur schwer in Gang. Die umfangreich geschilderten Kindheitserlebnisse der Zwillinge wollen sich nicht recht in das eigentliche Thema einbinden lassen und bleiben schließlich unbrauchbar hinter der Entwicklung des Romans zurück. Auch die Erzählungen der Großmutter wirken zum Teil stark konstruiert und zwanghaft in den Verlauf gepresst. Mühsam ziehen sich die einzelnen Etappen ihres Monologs über die Seiten. Hier ist Ausdauer gefragt, für die es kaum Anreize gibt. Der zu Beginn idealisierte Vater verliert zusehends an Gestalt und Bedeutung, was noch mit der Entwicklung des Verhältnisses zwischen ihm und seiner Tochter übereinstimmen mag. Als Freia nämlich entdeckt, dass seine Affinität zu den leicht bekleideten Waldelfen durchaus reale Parallelen aufweist, sinkt er in ihrem Ansehen. Aber auch die Mutter bleibt schattenhaft. Selbst als Freia beginnt, nach Ursachen für Renates seltsames Verhalten zu forschen, gewinnt sie nur minimal an Kontur. Paul, der homosexuelle Künstler, und die bornierten Großeltern sind stereotyp gezeichnet, was ärgerlich ist und dazu führt, daß das deutlich spürbare Vorhaben, ohne Sentimentalitäten, Rechtfertigungen oder Zugeständnisse Schuld und daraus resultierende familiäre Verstrickungen schonungslos aufzudecken, nicht ausreichend glaubwürdig und eindringlich umgesetzt werden kann. Obwohl es sich um tagebuchähnliche Aufzeichnungen handelt - inwieweit Bezüge zur Biographie der Autorin vorhanden sind, lässt sich nicht genau ausmachen -, verharrt der Roman im Unpersönlichen. Mit Sicherheit wird sich die Geschichte dieser Familie in ähnlicher Form in unzähligen deutschen Haushalten abgespielt haben, umso wichtiger wäre es, diesen kollektiven Erlebnissen ein individuelles Gesicht zu verleihen, was wohl auch die Absicht der Autorin war.

Die Idee also ist vielversprechend, die Motive, vor allem die vielen kleinen Details, mit denen Tanja Dückers ihren sprachlich durchaus gelungenen Roman anreichert und zweifellos auch bereichert, sind originell und einfallsreich. So werden geflochtene Zöpfe zum Charakteristikum der Beziehungen zwischen Großmutter, Mutter und Tochter, Lakritz auf der Zunge bringt Freia ihrem geliebten polnischen Onkel, der sich aus ungeklärten Gründen das Leben nahm, wieder näher, Bernsteinketten, Kühlschränke und Bienenstöcke spiegeln Verhaltensmuster wider. Die vielen Erinnerungsstücke der Großeltern und der Mutter, der das akribische, aber wirkungslose Sammeln der Zeitzeugnisse schließlich zum Verhängnis wurde, werden von Freia und Paul in phantasievolle, symbolische Bilder transformiert. Dahinter steckt das Bestreben, Vergangenheit sinnlich erfahrbar zu machen und nicht als Summe vieler toter Gegenstände zu archivieren. Dem "Rauschen", der seltsamen "Hintergrundstrahlung", ausgehend von der steten Präsenz der Familiengeschichte, insbesondere der beklemmenden Geheimniskrämerei um die tatsächlichen Umstände der Flucht, soll dadurch ein Ende gesetzt werden. Freias Wunsch, im Gemisch aus vergangenen Ereignissen, gegenwärtigen Zuständen und zukünftigen Entwicklungen, zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen der Generationen ihrer Familie, ihren eigenen Standpunkt auszutarieren, ist nachvollziehbar und bietet vielfältige Möglichkeiten, die zwar erkennbar sind, aber nicht nachhaltig genug genutzt werden. Was hat es schließlich mit dem Titel auf sich, zumal Wolken, wie Freia ihren Bruder belehrt, doch gar keine Himmelskörper sind? "Das habe ich mir so ausgedacht. Einfach so", antwortet Paul. Und eben das trifft auch auf die Schwäche des Romans zu: "Einfach so" kann solch ein brisantes, vielschichtiges und interessantes Thema nicht erzählt werden, doch kommt eine dementsprechende Wirkung größtenteils nicht zum Ausdruck. Trotz merklichem Engagement fehlt letztlich die Bannkraft, so liest es sich seltsam unbestimmt und teilnahmslos.

"Himmelskörper" ist der zweite Roman der Berliner Autorin Tanja Dückers, die sich bislang vor allem mit Lyrik, Kurzprosa und Erzählungen in deutscher und englischer Sprache einen Namen gemacht hat. Aber auch journalistische und literaturwissenschaftliche Arbeiten gehören zum Repertoire der 1968 geborenen Autorin, die häufig der Subliteraturszene zugeordnet wird. Mit ihrem 1999 veröffentlichten Debütroman "Spielzone" trat sie erstmals auch vor einem breiten Publikum in Erscheinung. Dückers möchte jedoch, so erklärte sie kürzlich in einem Interview, weiterhin Teil beider "Literaturszenen" bleiben.

Titelbild

Tanja Dückers: Himmelskörper. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2003.
320 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3351029632

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