Prostitution der Privatheit

Zur Fernsehkultur der Zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Von Irmgard Johanna SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmgard Johanna Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich 1989 die Wende vollzog, waren alle, wenn nicht körperlich, so doch "live" dabei. Ein großes Medienspektakel, das sich über geraume Zeit hinzog, nicht mit dem Fall der Mauer begann und endete, sondern von Printmedien, Rundfunk und Fernsehen, lange vor- und nachbereitet wurde. Dem Fernsehen kann hierbei eine herausragende Rolle zugeschrieben werden. Wer nicht Verwandte "drüben" hatte, wusste das, was er wusste aus dem Fernsehen, in der Vorwendezeit waren das in der Hauptsache Flüchtlingsströme von Ost nach West, Stacheldraht und Grenzposten, dreizehn Jahre Warten auf einen Trabant. So gestaltete sich das simple Bild, das erst nach und nach anfing, zu bröckeln. Nicht nur bei der Wende selbst wollten alle dabei sein, sondern nach der Wende auch alle, denen noch kein Kabel- oder Satellit TV beschieden war, um sich die bunte Welt, voll Information, Wahrheit und Fernweh per Knopfdruck ins Wohnzimmer zu holen. Die Wende als reales Livespektakel für und mit einer ganzen Nation.

Eine andere Qualität der Realsendung ist die Talkshow. Dieser speziellen Art von Unterhaltung widmet sich G. C.Tholen in "Selbstbekenntnisse im Fernsehen". In Amerika bereits in den 80ern populär, schwappt sie erst in den 90ern mit Verspätung nach Deutschland. Die Talkshow gibt es auch in Deutschland schon seit den 50er Jahren, sie hatte damals aber noch einen politischen Bildungsanspruch, wurde im Laufe der 70er zur Diskussionsrunde und in den 80ern immer provokativer, bis sie, nach amerikanischem Vorbild, in den 90ern den Sprung von der Politiker- und Sternchenversammlung in Nachbars Wohnzimmer schaffte. Die Affekt-Talks, zur Mittags- und Vorabendzeit ausgestrahlte Stelldicheins von Nichtigkeiten, bieten dem voyeuristischen Fernsehzuschauer einen ungehinderten Einblick in die moralische Verderbtheit seiner Mitmenschen. Der Talkmaster, Leiter und Therapeut, entlockt den Kandidaten oder besser Opfern Geständnisse im Sinne einer säkularisierten Beichte. Alle sollen es hören und das Publikum, zum Teil live dabei, zum Teil anonym am Fernsehbildschirm, sind die Richter, fällen Urteile mittels Sympathie und Antipathie. Die Teilnehmer dieses "Seelenstriptease" werden nicht in ihrer individuellen Komplexität vorgeführt, sondern auf eine einzige These reduziert, die möglichst selbstsicher, überlegen und provokant daherkommen sollte. Die Reduktion auf das Simple, scheinbar in 20 Minuten Sendezeit, von Publikum und Talkmaster therapierbar, macht die Talkshow für das Publikum so reizvoll, und dadurch wandelt sich auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit.

Einer ganz anderen Form des Fernsehens widmet sich Sabine Flach in "TV as a fire-place. Dan Grahams Medienarbeiten als gesellschaftliche Analyse". Graham inszenierte die Videokunst als Brücke und Verschlüsselung verschiedener räumlicher Ebenen gesellschaftlicher und politischer Art. Die Videoinstallation als Folge einer sich in ihren Bedürfnissen wandelnden Gesellschaft besitzt die Möglichkeit kontextfreier Präsentation. Das Fernsehen wird als sozial verknüpfendes Medium betrachtet, da es eine Verwischung von gesellschaftlichen Räumen zulässt und nicht mehr Dichotomien und Binarismen dominieren, sondern Verknüpfungen und Kombinationen. Daher bildete sich in den späten 60er Jahren nicht nur eine ästhetische Werkkategorie, sondern auch eine medial-räumliche. Innerhalb des künstlerischen Kontextes gelingen damit Bezüge zu Systemen ausserhalb der Kunst, so dass eine direkte gesellschaftliche Bezugnahme möglich ist. Es geht nicht wie in der aktionistisch orientierten Kunst der frühen 60er Jahre um eine Einbeziehung des Lebens in die Kunst, sondern auf eine Bezugnahme auf "Lebenswelten", was eine genuin eigene Ästhetik durch die Vermischung unterschiedlicher ästhetisch-kultureller Ebenen mit sich bringt. "Die künstlerische Arbeit bleibt in diesem Sinne artifiziell, da sie sich nicht in die Lebenswelt eines Rezipienten hinein auflöst". Die Arbeitsweise dieser Kunstgattung erläutert Sabine Flach am Beispiel Dan Grahams und vier seiner Arbeiten.

Beiden Denkmodellen, so unterschiedlich sie sich mit dem Medium Fernsehen beschäftigen, bleibt gemein, dass sie sich als Abbild einer Gesellschaft, als vereinende Instanz und Informationsmedium begreifen. Beide sind auf ein Publikum angewiesen und auf eine Rezeption ausgelegt, die einen voyeuristischen Blick in die Gesellschaft voraussetzt. Neben diesen beiden Aufsätzen versammelt "Fernsehperspektiven. Aspekte zeitgenössischer Medienkultur." 15 weitere Aufsätze der Vortragsreihe "TV 99" des Zentrums für Kulturforschung der Universität Gesamthochschule Kassel und der LPR Hessen.

Titelbild

Sabine Flach / Michael Grisko: Fernsehperspektiven. Aspekte zeitgenössischer Medienkultur.
KoPäd Verlag, München 2000.
300 Seiten,
ISBN-10: 3929061791

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