Der späte Triumph des vernunftgesetzlichen Ichs über die natural-sinnlichen Infektionen

Salomo Friedlaenders autobiographische Skizze "Ich"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht jeder Theoretiker, gleichviel ob Philosoph, Wissenschaftler oder Kunstschaffender dürfte über seine selbsternannten Vollender glücklich sein, könnte er die Krone, die seinem Werk aufgesetzt wird, noch posthum einer kritischen Würdigung unterziehen. Das dürfte auch für den Königsberger Geistesheroen Immanuel Kant gelten. Wohl nur wenig von alldem, was in seinem Namen geschrieben und als Weiterentwicklung seines Systems verstanden wurde, dürfte vor seinem kritischen Geist Gnade gefunden haben, weit öfter dürfte er sich da schon im Grabe umgedreht haben. So ganz sicherlich auch angesichts des "kritischen Polarismus", wie ihn Salomo Friedlaender in seinem Werk "Das magische Ich" als Vollendung der kantischen Philosophie vorstellt.

Wie der 66-jährige Friedlaender in seiner 1936 verfassten und nunmehr von Hartmut Geerken aus dem Nachlass herausgegebenen "biographischen Skizze" mit dem lapidaren Titel "Ich" bekennt, ist Kant ihm nicht weniger als der "Revolutionär der menschlichen Denkungsart", der die "allergewisseste Unterscheidung" des Guten vom Bösen "gesetzlich begründet" hat. Dass Friedlaender zu Kant und somit zu sich selbst fand, verdankt er der Begegnung mit dessen "Thronerbe", dem heute weithin vergessenen Kantianer Ernst Marcus, Kants "einzige[m] fruchtbare[m] Nachfolger", der die Kritik der reinen und praktischen Vernunft "zum Range der Naturwissenschaft" erhoben hat. Der Begründer des Marburger Neukantianismus Hermann Cohen, von dem Friedlaender berichtet, dass er ein "Studienfreund" seines Vaters gewesen sei und mit diesem gar ein Zimmer geteilt habe, hat Kants Lehre hingegen nur "verschlimmbessert". Dass Friedlaender selbst als Student eine zeitlang bei Cohen gehört hat, verschweigt er allerdings. Es mag aber durchaus auch sein, dass dem vom grellen Licht des "geistigen Heliozentrismus" Kants und Marcus' Geblendeten sein ehemaliger Lehrer im Dunkel des Vergessens versank.

Ist das Thema von Friedlaenders autobiographischer Skizze "die Innenwelt", so meint er damit in erster Linie seinen philosophischen Werdegang mit seiner endlichen Selbstfindung als demjenigen, der den "Keim" des "Kant-Marcus'sche[n] System[s]" im "kritischen Polarismus" zur "Blüte" brachte und schließlich als "Frucht" vollendete. Dem gegenüber erscheint ihm "alles menschliche Außen" als "grotesk" und somit offenbar als eitel und nichtig - inklusive seiner verfassten Gedichte und Grotesken, die er vor allem in den expressionistischen Organen "Die Aktion" und "Der Sturm" publizierte. Anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass man über diese Seite seiner schriftstellerischen Tätigkeit so gut wie nichts erfährt.

Zu den wenig bedeutsamen Äußerlichkeiten zählt auch das politische Zeitgeschehen. So wird der 1. Weltkrieg etwa schnell als "blutiger Schein" abgetan. Wie "aller Krieg" ist er nichts weiter als eine "blutige Vergeblichkeit", über die Friedlaender, der die Welt "transzendental von innen her erobert" nur "lacht", ist ihm die Unsterblichkeit des "Ich", des "Noumenon" doch "eine "praktische Gewissheit".

Mehr treibt ihn da schon seine Sexualität um, von der er nicht müde wird zu erzählen. Eine bramarbasierende Beichte, wie sich schnell herausstellt, die Absolution erheischt. "Glücklicherweise", so berichtet er, habe er seinen Geschlechtstrieb "erst spät" kennen gelernt. Doch dann sei er mit derart "perverse[r] Wut" über ihn hergefallen, dass es ihn schnurstracks zu einer Prostituierten trieb. Sodann verrichtet der "asketische Lüstling" seine "sexuelle Notdurft" bis in seine "reiferen Jahre" hinein ausschließlich bei "käuflichen Mädchen". Zu ihnen zählt er offenbar nicht nur "die Stubenmädchen", von denen er berichtet, sie hätten sich darum gerissen, mit ihm zu schlafen, sondern überhaupt alle "leichten" und "entgegenkommenden Mädchen". Jedenfalls, so betont er, machte er sich "kein Gewissen" daraus, sich ihrer "ohne viel Unkosten zu bemächtigen" und sie samt und sonders "zu verspeisen".

Auch nachdem er im Alter von 40 Jahren geheiratet hatte, änderte sich an seiner sexuellen Libertinage nichts. "Zum Entsetzen [s]einer lieben Frau" gab er den von allen Seiten auf ihn einstürmenden "Versuchungen" um so mehr nach, als sie bald ein Kind gebar und er sie "so gefesselt" sah. Nun überließ er sich dem "sinnlichen Strudel" der "lechzenden Begierden des Fleisches" noch mehr als zuvor. Aber wirklich nur denjenigen des Fleisches! Denn wie er versichert, habe alle "Fülle" der "bis zur Perversion gehende[n] vulgivagische[n] Sexualität" die "Bindung an [s]ein Weib" nur "äußerlich zu lockern" vermocht, während "[s]eine Treue innerlich standhielt". Seine Frau hingegen, versteht sich, sei sowohl innerlich als auch äußerlich stets "die Treue selber" gewesen.

Prahlt Friedlaender auch bis zum Überdruss mit seiner "vulgären Casanoverei", so gibt er sich bei Abfassung der autobiographischen Skizze völlig geläutert. Diese Wandlung vom Saulus zum Paulus ist der Philosophie und insbesondere seiner eigenen Weiterentwicklung des "Kant-Marcus'sche[n] System[s]" hin zur Erkenntnis der Vernunft als des "Zentrum[s] der Natur" zu danken. Denn "das eigene Ich vernunftgesetzlich kennen zu lernen" reinigt zum guten Ende doch noch von allen "natural-sinnlichen Infektionen".


Titelbild

Almut-Barbara Renger (Hg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
183 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 347601861X

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Titelbild

Salomo Friedlaender / Mynona: Ich (1871-1936) Autobiographische Skizze.
Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hartmut Geerken.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
152 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3895283940

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