Migranten? Literaten!

Zehn Einwanderer - zehn Erzählungen

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Catalin Dorian Florescu wurde 1967 in Timisoara geboren und lebt heute in Zürich. Radek Knapp wurde 1964 in Warschau geboren und lebt heute in Wien. Beide schreiben in deutscher Sprache. Sind sie deutsche Einwanderer? Oder trifft hier ein rumänischer Schweizer einen polnischen Österreicher? Man muss den Untertitel der aktuellen, originellen und lesenswerten Anthologie "Feuer, Lebenslust!" nicht strikt wörtlich nehmen: "Erzählungen deutscher Einwanderer". Deutsche sind Florescu und Knapp nicht, Einwanderer schon, genauso wie die in deutschen Städten wie Berlin, Köln oder Stuttgart lebenden Schriftsteller Nicol Ljubic, Mohammad Aref, Selim Özdogan, Zoran Drvenkar, Tzveta Sofronieva, Richard Duraj, Jefferson S. Chase und Natascha Wodin. Ihre lakonische Interkulturalitäts-Erzählung "Das Singen der Fische" beschliesst einen Band, der mehr sein will als eine Anthologie zeitgenössischer Prosa aus der Feder oder Tastatur von gemeinhin Migrantinnen und Migranten genannten Poeten. So wie in Goethes am Anfang des Buches zitierten "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" (1795) gibt es einen Binnenteil - zehn bemerkenswert unterschiedliche Erzählungen, darunter grossartig spannende (Nicol Ljubic) und herrlich skurrile (Radek Knapp) - und einen diese Prosatexte in Gruppen ordnenden Rahmen, welchen vier "Unterhaltungen deutscher Eingewanderten" bilden. Um Goethe aber geht es nirgendwo - die Texte spielen im gegenwärtigen Europa, in Eisenbahnzügen oder Kneipen, auf Festen aller Art, und sie handeln von autoritären Vätern oder sehnsüchtiger Liebe, vom Älter- oder vom Dickerwerden, von existenzieller Orientierungslosigkeit oder pubertären Träumereien. Die Gesprächsbeiträge der zehn Nachfolger des grossen Adelbert von Chamisso kreisen um das Hier und Jetzt mit gelegentlichen Rückblicken ins Dort und Damals, um die Kunst und um ein Mensch-Sein, das das Ausländer-Sein einschliesst - ohne davon dominiert zu werden. Die Autoren versuchen so etwas wie eine aktuelle Einschätzung des Eigenen in der Fremde und der Fremde im Eigenen, was meist interessant zu lesen ist und bisweilen sogar die Leserseele zärtlich zu rühren vermag. Auch in den Gesprächsteilen erweist sich, was ein Vergleich der Prosatexte bereits nahelegt: Das Eingewandert-Sein, sei es aus Kroatien, dem Iran, der Türkei, Polen, Bulgarien, Rumänien oder den USA, auch das Kind-von-Einwanderern-Sein - das ist heute, ganz anders als vor zehn oder gar zwanzig Jahren, letztlich nicht viel mehr als der kleinste gemeinsame Nenner, unter den sehr unterschiedliche Persönlichkeiten und Sprachkunstwerke subsumiert werden können. Im Zeitalter einer fortgeschrittenen Globalisierung gibt es keinen Einwanderer-Bonus und hoffentlich auch keinen Einwanderer-Malus mehr, auch keine allen Autoren gemeinsame thematische Linie - was zählt, sind literarische Qualität und erzählerische Originalität, und eben das bietet dieser Band.

Sprachkunstwerke? Allerdings! Man muss nicht alle zehn Erzählungen gleichermassen mögen - Muhammad Arefs "Parabel vom Perserkater" ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack -, um festhalten zu können, dass hier durchgängig ein hervorragendes Deutsch geschrieben wird, ein meist recht unsentimentales Literatur-Deutsch, wie man es heute nicht mehr so arg oft findet. Es hat den Anschein, als schätzten gerade viele Schriftsteller nicht-deutscher Muttersprachen die deutsche Sprache als präzises und wohlklingendes Instrumentarium, das ihnen vor allem auch die für das Schreiben nötige Distanz zu ihren Gefühlen und Stimmungen erlaubt. Wenn aber die sehr bewusste Hochschätzung des Deutschen zum kleinsten gemeinsamen Nenner heutiger Einwanderer gehört, dann ist das auch ein leiser Appell an alle Muttersprachler, ihr vertrautes Idiom besser und nachhaltiger zu pflegen. Ein Weg dorthin ist die Lektüre herausragender deutschsprachiger Literatur. Wer die meisterhaften Sprachkunstwerke des französischen Adeligen und eminenten deutschen Dichters Adelbert von Chamisso nicht lesen mag und eher Gegenwärtiges bevorzugt, der ist mit "Feuer, Lebenslust!" bestens bedient.

Titelbild

Feuer, Lebenslust! Erzählungen deutscher Einwanderer. Zusammengestellt von Maximilian Dorner.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003.
261 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3608935169

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