Telepolis adieu?

Der Sammelband "Praxis Internet" verabschiedet die IT-Hysterie

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem das Herausgeberduo Stefan Münker und Alexander Roesler bereits den "Mythos Internet" (1997) für die Suhrkampkultur aufbereitet haben, gilt es nun, nach dem kulturell wie ökonomisch feststellbaren Abklingen der Internethysterie, die pragmatische Dimension der jungen Kulturform zu erkunden. In ihrem Sammelband "Praxis Internet" werden sämtliche relevanten Kulturtechniken des Online-Daseins beleuchtet. Neu entstandene Praktiken aus den Bereichen Politik, Ökonomie, Arbeitswelt, Ästhetik und Spiel werden ebenso berücksichtigt wie die weiten Felder von Sicherheit und Urheberschaft.

Claus Leggewie verabschiedet den Mythos, dass das Internet als großes Massenmedium meinungs- und demokratiebildend wirksam sei, jedoch nicht ohne dessen demokratisches Potential zu unterstreichen, das in der "Verbesserung der öffentlichen Diskurse" liege. Das Netz - das zeigt der Autor anhand der informationslastigen Woche nach dem 11. September und das ließe sich im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg ebenso zeigen - funktioniert "klein aber fein". Die Chance, die politische Kommunikation nachhaltig zu verbessern, liegt nach Leggewie nicht im Ausbau zum konventionellen Massenmedium, wodurch auf Interaktivität weitgehend verzichtet werden müsste, sondern "vielmehr in der Überwindung von deren Einweg-Format zwischen Sender und Empfänger".

Dabei bleibt das Internet weiterhin ein elitäres Medium. Für rund 400 Millionen Menschen ist das Surfen im Netz zur ganz gewöhnlichen täglichen Beschäftigung geworden, der überwiegende Teil davon geht mit quälend langsamen Verbindungen online und die "Anstrengungen, die Low Level IT-Nutzung auf eine breite Basis zu stellen" scheitert laut Harald Preissler und Joachim Reske an der schlichten Tatsache, dass sich die meisten Menschen keinen Zugang leisten können. Natürlich sitzt der surfende Teil der Weltbevölkerung vor allem in den westlichen Industrienationen. Insofern sind auch die Auswirkungen auf die Arbeitswelt noch verhältnismäßig gering, aber was nicht ist, wird sicher werden. So skizzieren die beiden Autoren ein beunruhigendes Szenario eines "Tele-Taylorismus". Mit der globalen Vernetzung ist eine Demokratisierung und Ent-Hierarchisierung der Arbeit keineswegs in greifbare Nähe gerückt. Vielmehr dienen die IT-gestützten Organisationsstrukturen der Kontrolle jedes einzelnen Arbeitsplatzes. Wie am Beispiel der prosperierenden Call-Center abzulesen ist, werden die Arbeitnehmer streng und bequem kontrolliert und deren eigenverantwortliche Handlungsspielräume auf ein Minimum reduziert. Demgegenüber steht das Bild des "Techno-Citoyens", der in oft nur kurzfristigen Arbeitsverhältnissen zwar autonom agieren kann, jedoch unter einem permanenten Anpassungs- und Weiterbildungsdruck steht.

Was für die Felder Politik und Arbeit gilt, kann auch für die künstlerische Netznutzung konstatiert werden: es gilt, den Ball flach zu halten und die einst verkündeten revolutionären Veränderungen durch das neue Medium eher im Kleinen zu suchen. Christiane Heibach stellt in ihrem Aufsatz verschiedene Ausprägungen des Schreibens im Internet vor und kommt zu dem Schluss, dass sich die Kulturtechnik des Schreibens nicht grundsätzlich geändert habe. Die im Internet beobachtbare Renaissance altbekannter Schreibpraktiken wie Zufalls-, Assoziations-, Zitiertechniken oder mathematische Zahlenspiele arbeiten zwar hartnäckig daran, "den genialen Schöpferautor zu unterminieren", weiterhin gilt jedoch das Buch mit seinem eindeutig identifizierbaren Verfasser als das Leitmedium der Literaturproduktion. Gleichwohl fordert die Autorin die "zögerlich[e]" Literaturwissenschaft auf, sich den neuen Ästhetiken offenherziger und sachkundiger anzunehmen. Aber mündet die kollektive, nicht mehr eindeutig zuschreibbare Autorschaft zwangsläufig in einer neuen Ästhetik? Und wäre eine Rezeptionsforschung nicht vielleicht fruchtbarer, denn nach wie vor ist doch das Hauptproblem von Bildschirmtexten, dass sie ab einer gewissen Länge schlicht und ergreifend nicht mehr gelesen werden. Es wird schneller weitergeklickt als umgeblättert.

Ein Rudiment des ehemaligen Hypes des Internets findet sich schließlich noch im Beitrag von Andreas Broeckmann, der anhand der "erweiterten, virtuellen Existenz im Netz", sprich in der Teilnahme an Chats und Foren und der damit verbundenen "potentiellen Konnektivität" eine grundlegende Veränderung der "gesellschaftlichen Interaktion in bezug auf Intimität, Arbeit, Ausbildung, Politik" konstatiert. Sicherlich lassen sich bereits jetzt derartige Wandlungen beobachten, aber deshalb gleich von einem tiefgreifenden Eingriff in die "Prozesse der Subjektivierung" zu sprechen, scheint doch unter die bereits verabschiedet gewähnte Kategorie des "Mythos Internet" zu fallen. Lediglich die Werbeindustrie scheint solche Modifikationen bereits zu antizipieren: Wie uns die grässlichen Werbespots des international markführenden Providers AOL zeigen, führt das Surfen im Netz nämlich vornehmlich zu grenzdebil anmutenden Lachattacken.

Stefan Münker und Alexander Roesler haben ein geistreiches Kompendium herausgegeben, das nahezu alle kulturell relevanten Bereiche des Mediums Internet kritisch würdigt. Damit liegt ein weiteres Stück theoretischer Pionierarbeit zu diesem noch jungen Forschungsobjekt vor.

Titelbild

Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
280 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3518122541

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