Mein Leben als Tochter

Paula Fox' Autobiografie "In fremden Kleidern"

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Geschichte ist so traurig, dass man wünschte, sie sei erfunden. Paula Fox' Erinnerung an Kindheit und Jugend ist so eine. Eine Geschichte, die so bitter wie wahr ist. Vielleicht ist die tiefe, schon als Kind erfahrene Verletzung der Grund, warum die amerikanische Schriftstellerin weit über siebzig werden musste, um sich ihr im Schreiben noch einmal auszusetzen.

Paulas Schicksal ist, überhaupt geboren zu sein. Diesen Makel wird sie in den Augen der Mutter nicht los: "Ein paar Tage nach meiner Geburt war ich in einem Findelhaus in Manhattan abgegeben und zurückgelassen worden, von meinem widerstrebenden Vater und von Elsie, meiner Mutter, die voller Panik und nicht zu bändigen gewesen war in ihrer Hast, mich loszuwerden." Fortan wächst sie bei Verwandten und bei Fremden auf. Ob das wirklich schlimmer ist als bei den leiblichen Eltern zu leben - die wenigen Besuche Paulas bei Elsie, der egozentrischen Schauspielerin und Paul, dem liebenswerten, aber launischen und alkoholsüchtigen Drehbuchschreiber, wecken Zweifel daran.

Beinahe ein Dutzend Mal hat Paula, bis sie 18 Jahre alt ist, den Wohnort gewechselt. Die Kapitel des Buchs folgen diesen Stationen. In Balmville verbringt Paula die glücklichste, unbeschwerteste Zeit. Fünf Monate ist sie alt, als Pastor Elwood sie zu sich nimmt. Nicht zufällig ist Onkel Elwood, wie sie den Reverend zärtlich nennt, das ausführlichste Kapitel gewidmet. Bei ihm ist sie für ein paar Jahre gut aufgehoben. "Die Zeit war lang in jenen Tagen, ohne Maß. Ich wanderte durch die Vormittage, als gäbe es nichts hinter mir und vor mir, und alles, was ich mit mir trug, leichten Herzens, war die Gegenwart, ein Augenblick ohne Ende." Nirgendwo mehr sonst wird Paula so geborgen sein. Nicht bei den Eltern, die sie hin und wieder für kurze Zeit zu sich nach Hollywood oder New York holen, und nicht bei der Großmutter, bei Freunden der Eltern oder im Mädchenpensionat, wohin Elsie und Paul sie immer wieder abschieben.

An Kummer und Abschied ist Paula gewöhnt. Nur die Abreise aus Balmville, die ihr den geliebten Pastor nimmt, schmerzt sie wie "eine Amputation". Trauriger aber als die vielen Abschiede sind die wenigen Augenblicke, die Paula mit ihrer Mutter verbringt. Sie gehören zu den erschütterndsten der autobiografischen Geschichte. Wie jedes kleine Mädchen entdeckt Paula einmal die Kleider und Schminktiegel der Mutter. Mit üppig bemalten Lippen wird sie ertappt, spürt den Hass der Mutter, die sich vor ihr aufbaut und kalt die immer gleiche Phrase ausstößt: "Was machst du da"? Lapidar stellt sie fest: "Ich fühlte, dass sie mich getötet hätte, wenn sie die Tat hätte verbergen können." Ein anderes Mal - Paula hat auch die Lektion gelernt, "dass es gefährlich war, über irgend etwas zu klagen, wenn meine Mutter in der Nähe war" - flüstert sie dem Vater zu, sie habe Zahnweh. Die Mutter hört es mit, setzt das Kind auf den Notsitz ihres Cabrios und schüttelt Paula auf einer Serpentinenfahrt durch, dass ihr Hören, Sehen und mit der Angst vor der tobenden Mutter auch der Zahnschmerz vergeht. Ein Wunder, dass Paula diese Mutter seelisch übersteht.

Paula Fox schreibt selten ein Wort zu viel. Ihre Romane, etwa der wieder entdeckte "Was am Ende bleibt", sind von der gleichen Eleganz wie die nun vorgelegte Autobiografie, deren Schönheit in den klaren, schlichten Sätzen steckt. Fox ist eine Meisterin der kleinen Form. En miniature, in kurzen, aber ungeheuer plastischen Szenen, zeigt sie die Seele des unglücklichen Kindes, das sie selber ist, auf. Einmal besucht sie eine Freundin in einem Kinderheim, Jahrzehnte später hält sie dazu fest: "Was ich empfand, war eine starke Sehnsucht, sofort in das Waisenhaus einzuziehen. Ich wollte den Duft nach Fleischbrühe für mich, die weißen gestärkten Vorhänge, die Kleider, die Emilia trug, die Nonnen mit ihren bleichen Mondgesichtern und ihrem schwarzen Habit. Emilia sah so ruhig aus, so gerettet."

Ihrer eigenen autobiografischen Geschichte ist die gleiche Spannung eingeschrieben, die auch den Romanen eigen ist. Paula Fox hat ein Gespür für Atmosphären, für Emotionen, die einen Moment lang wie Wellen auf dem Erzählfluss aufschäumen und dann verebben. Im Haus des Reverends lebt zuweilen auch die Schwester des Pastors, von der sich Paula beobachtet fühlt, sie "umschmeichelte mich oder kommandierte mich herum, je nachdem. Sie war die grämliche Schlange im kurzlebigen Paradies meiner Kindheit". Gefährlich aber wird ihr die Frau, anders als man es erwarten würde, nicht. In anderen Passagen des Buches glaubt man die Romane von Paula Fox wiederzuerkennen - in der Autobiografie kratzt ihr eine Katze über die Hand, in "Was am Ende bleibt" beginnt mit dieser Szene das Psychogramm einer Ehekrise.

"In fremden Kleidern" hat Paula Fox ihre Erinnerungen genannt. Fremde Kleider, für die Autorin sind sie Metapher für die Freundlichkeit, die sie von Fremden erfährt und die ihr die eigene Mutter vorenthält. Kurz vor deren Tod kommt es zu einer letzten Begegnung, die Versöhnung aber bleibt aus. Paulas Ekel ist so groß, dass sie nicht einmal die Toilette in Elsies Haus benutzen kann. Lieber setzt sie sich unter einen Baum. Als sie wenig später die Nachricht vom Tod der Mutter erhält, bleibt ihr, wie sie schreibt, "das letzte Privileg einer Tochter versagt": Die eigene Mutter betrauern zu können. Die letzten Seiten des Buches gehören Paula Fox' eigenem Kind: Mit 21 war sie schwanger, und gab - es mag nicht überraschen - die Tochter zur Adoption frei. Als sie die Entscheidung rückgängig machen will, ist es zu spät. Erst als die Tochter erwachsen ist, wird Paula Fox von ihr "gefunden", wie sie schreibt. "Was mir in all den Jahren meines Lebens fehlte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Linda und ich uns trafen, war eine bestimmte Art von Freiheit: ohne Angst zu einer Frau aus meiner Familie sprechen zu können." Diese Gunst war ihrem eigenen Leben als Tochter zeitlebens nicht vergönnt.

Titelbild

Paula Fox: In fremden Kleidern. Geschichte einer Jugend.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Röckel.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406502717

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