Der Spiegel im Spiegel

Almut-Barbara Rengers Sammelband zur Theorie- und Rezeptionsgeschichte des Mythos vom "Narcissus"

Von Christian BerkemeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Berkemeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Narziss ist in. Kaum eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der letzten Jahre, die nicht an irgendeiner mehr oder minder passenden Stelle den Begriff verwendet. Dabei werden häufig sehr unterschiedliche Begrifflichkeiten mit dem Wort verbunden, und somit kommt ein Sammelband zur Thematik gerade richtig. Almut-Barbara Renger versammelt auf 179 Seiten zehn Beiträge im handlichen Paperback. Redaktionell ist der Band sorgfältig bearbeitet und die sprachliche Gestaltung erweist sich mit geringen Ausnahmen durchweg als souverän. Die Anordnung der Beiträge erfolgt grob chronologisch und folgt dem Mythos vom Ursprung bis hin zu kybernetischen Erscheinungen, die mit ihm in Verbindung stehen. Dabei leistet Renger selbst einen klar akzentuierten Abriss der Entwicklungs-, Theorie- und Rezeptionsgeschichte des Mythos, wobei sie die später durch die Einzelbeiträge vorgenommenen Gewichtungen bereits kontextualisiert. Die Anordnung der Beiträge überzeugt neben der entwicklungsgeschichtlichen Leistung durch ihr in den Einzelwissenschaften fundiertes, jedoch interdisziplinär verschränktes Referenzmuster.

Almut-Barbara Renger führt in ihrem Vorwort die Vielfalt der Interpretationen des Narziss-Mythos letztlich darauf zurück, dass sich in ihm zwei anthropologische Grundkonstanten begegnen: Das Problem der Selbsterkenntnis und die Frage nach "Liebe als Passion". Beide führt sie in der Folge einer näheren Untersuchung zu. Die folgende Reihe der Beiträge entfaltet beispielhaft ausgewählte Bereiche interdiskursiver Verwendungen des Mythos. Den Beginn bildet Thomas Macho mit einer Erörterung des Narziss-Mythos auf dem Gebiet der Optik. Die dort vorgefundenen Assimilationen des Mythos bezeichnet er mit drei unterschiedlichen Funktionen und ihrer mythologischen Entsprechung: Spiegel als Waffe (Perseus), Spiegel und Schatten (Narziss) und ebenso Spiegel, Tod und Wiedergeburt (Dionysos). Von einer überzeugenden Differenzierung dieser Funktionen im jeweiligen mythologischen Kontext spannt Macho den Bogen hin zur metaphorischen Verwendung aus dem Bereich der Optik wie etwa im Begriff der Reflexion.

Gregor Vogt-Spira untersucht die Interdependenz von Narziss und Echo in Ovids Fassung des Mythos. Seine philologisch genaue Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Zusammenstellung beider Motive um eine komplementäre, nicht rein additive Verwendung handelt. Er sieht die Leistung der Ovid-Version insbesondere in ihrer Dematerialisierung (Echo und Narziss erscheinen vor allem als körperlos und auf ihre jeweiligen optischen bzw. akustischen Funktionen reduziert), aber auch in ihrer poetischen Dichte der Dopplung, Spiegelung und Paradoxalisierung. Eben diese Fassung in den "Metamorphosen" ist es laut Christine Walde, die auch die Rezeption des Mythos im Mittelalter bestimmt. Walde nähert sich analytisch zunächst zwei Interpretationen und Bewertungen des Narziss-Mythos beim Kritiker und Kommentator Arnulf von Orléans und dem Philosophen und Enzyklopädisten Alexander Neckam, danach auch drei literarischen Narziss-Versionen. Insgesamt sieht sie in der Narziss-Tradition des Mittelalters eine zwar auf Ovid beruhende, doch letztlich eigene produktive Dynamik. Dabei beobachtet sie eine gegenläufige Entwicklung, einerseits die eindimensionalere, moralisierende Deutung, welche den Wegfall einzelner inhaltlicher Bestandteile des Mythos impliziert, anderseits jedoch auch eine Anreicherung und Perspektivierung im Sinne des "vanitas"-Konzepts und ebenso in der Transkontextualisierung im höfischen Roman und seiner Abwägung einer verfehlten Objektwahl und der normativen Hervorhebung einer bestimmten Liebeskonstellation.

Bettina Rommel nimmt in ihrem Beitrag eine Neuzuordnung von Rousseaus Komödie "Narcisse" in zwei Kontexten vor. Sie untersucht die wenig erforschte Stellung des Bühnenstücks in dessen Werk und im Diskurs der rationalistischen Anthropologie. In ihrem sauber argumentierten Beitrag vermag sie schließlich zwei konkurrierende Paradigmen der Vollkommenheit in Rousseaus Stück aufzufinden, da sich in Rousseaus Version der Narzissmythos mit dem Thema der Androgynie verbinde. Weiterhin beobachtet sie eine Verschiebung von einer dem Rationalismus verpflichteten "Perspektierung der Affekte" zu einer "quasi-empirischen Beobachtung einer imaginären Disposition". Rommels Beitrag bleibt bei aller Dichte jederzeit nachvollziehbar und leserlich; er vermag die hinreichend dokumentierten Forschungsergebnisse zur Problematik der Körperlichkeit im fraglichen Kontext neu zu situieren. Die Politik körperlicher Bildlichkeit ist es auch, die Stefan Matuschek sich zum Thema eines gewagten Ansatzes macht. Ausgehend von der Verwendung des Narzissmythos bei Milton gelangt er zur Übersetzung Schillers und dessen Verwendung des schönen, sich betrachtenden Knaben als philosophisch-ästhetisches Exempel. Matuschek vermag die spannungsvolle Interdependenz autobiographischer, diagnostischer, idealistischer und ästhetischer Diskurse zwischen Rousseau, Schiller und Schlegel anschaulich darzustellen und gelangt bei der Betrachtung von Jungs Archetypen und den Erwägungen Marcuses zur Anschauung einer Diskurszirkulation, die sich in der eigenen Reziprozität bestätigt: Der Mythos ist hier nicht mehr Projektionsfläche utopischen Denkens, sondern dessen Ursprung, ein Ursprung allerdings, dem Matuschek mit dem französischen "Fin de siècle" einen weitaus engeren funktionellen Rahmen zuweist, als Marcuse dies tut.

Um die gleiche Epoche kreisen auch die beiden folgenden Beiträge. Der Aufsatz Walter Erharts, wohl einer der stärksten Beiträge des Bandes, stellt wiederum die Bandbreite und das Ineinandergreifen künstlerischen, mythischen, narrativen, poetologischen und psychiatrischen Redens über den Narziss dar. Erhart stellt darin plastisch die Verräumlichung und Entzeitlichung des Subjekts und dessen klinische Diagnose dar. Eben diese und ihre Verwendung bei Freud ist es, die Glenn W. Most sich zum Thema wählt. Es gehört zu den vielleicht teils unvermeidbaren, die inhaltliche und konzeptionelle Stringenz jedoch gelegentlich störenden Redundanzen des Bandes, dass hier nun abermals der Primat der ovidischen Mythos-Interpretation erklärt und mit weitgehend souverän referierten, aber bekannten Erkenntnissen - etwa zur Weiterentwicklung des Mythos bei Lacan - zu einer eher summarischen Darstellung gebracht wird. Als Etappe der entwicklungsgeschichtlichen Darstellung des Bandes lässt sich dennoch in Erharts und Mosts Beiträgen eine wichtige Gelenkstelle erkennen.

Die Nähe zur Gegenwart, die sich hier schon angedeutet hat, prononciert sich abermals in Almut-Barbara Rengers Überlegungen zum Narziss in der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart. Nach einer Art Präambel bietet der Beitrag ein spannungsvolles und kontrastreiches Spektrum der gegenwärtigen lyrischen Verwendungen des Mythos u.a. bei Hermlin, Kaschnitz, Ausländer, Grass und zahlreichen weiteren deutschen Dichtern. Renger gestattet sich darin einige stilistische Manierismen und eine - in diesem Format - vielleicht unglückliche Proportionierung, die aus der klaren Gliederung den Eindruck einer dichten, aber stellenweise zu kurz gehaltenen Überdifferenzierung erwachsen lässt. Wozu braucht ein Beitrag von 33 Seiten vierzehn durch Titel markierte und abgesetzte Unterkapitel? Zum Nachweis umfassender Kenntnisse, großer Sorgfalt und eindrucksvollen Materialreichtums hätte es dessen wohl nicht bedurft. Fraglos aber wird Rengers Beitrag dem im Untertitel ihres Bandes selbst geweckten Anspruch auf entwicklungsgeschichtlich kontrastierte Skizzierung des Mythos bis in die Gegenwart vollends gerecht. Auch Thomas Wegmanns abschließender Beitrag bildet ein Bonbon der Sammlung und den noch einzufordernden Abschluss, indem er die Rhizome des Cyberspace auf ihre Selbstreferenz, die Umkehrung von Originalität und Artifizialität, die Zusammenhänge von Echtzeit und Mediendifferenz befragt und die auf den Mythos rekurrierenden Strukturen aufzeigt. Wegmann betont von Luhmann bis McLuhan dabei insbesondere das Problem einer immanenten Differenz.

Almut-Barbara Renger ist es zweifellos gelungen, in ihrer Sammlung durch sehr unterschiedlich angelegte Beiträge Bandbreite, Entwicklung und Präsenz des Narzissmythos diachron facettenreich darzustellen. Jeder Leser wird darin sein Elixier finden, sei sein Interesse nun philologischer, philosophischer, medientheoretischer, wissenschafts- und diskursgeschichtlicher oder epistemologischer Natur. Anregend sind dabei insbesondere die teils unorthodoxen Ausblicke, aber auch der nicht zwingend auf Eindeutigkeit und Systematik, sondern auf Dynamik und Offenheit angelegte Gesamtcharakter der Aufsatzsammlung, der es gleichwohl an wissenschaftlicher Exaktheit an keiner Stelle mangelt.

Titelbild

Almut-Barbara Renger (Hg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
183 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 347601861X

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