Nach 4 Uhr 48 ist alles gesagt

Sämtliche Stücke der Dramatikerin Sarah Kane in einem Band

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1999 beging Sarah Kane im Alter von 27 Jahren Selbstmord. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit nur fünf Theaterstücken zu einer der wichtigsten Dramatikerinnen der Gegenwart geworden. Im vorliegenden Band erscheinen diese fünf Stücke erstmals in der überarbeiteten, letzten Fassung, das Stück "4.48 Psychose" erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Durs Grünbein.

Schon im ersten Stück, "Zerbombt", etablieren sich die grundlegenden Elemente Kanes: Die Durchdringung nicht nur von Oberfläche und Tiefe, sondern auch die Verwischung der Oberflächen in- und durcheinander. Innen ist außen ist innen. Die Organe und die Sitten. Ein Mann und eine Frau, in einem Hotelzimmer, klassisch, doch die gemeinsame Vergangenheit ist weg, die Liebe ist weg, es bleiben Vergewaltigung und Unverständnis füreinander, schließlich: Verfall. Die Tabubrüche in "Zerbombt" spiegeln eben diesen inneren Verfall wieder: Während zunächst noch die Vergewaltigung als Angst- und Störungsquelle präsent ist, bricht plötzlich der Krieg - und mit ihm ein Soldat - in die Szene ein: Nachdem eine Mörsergranate das Haus getroffen hat, eskaliert auch die Gewalt zwischen den Darstellern - verbal wie auch in den Handlungen.

In "Phaidras Liebe" wird diese Linie modifiziert: Die Gewalt wird verinnerlicht und bricht im Begehren wieder hervor. Dieses Begehren wird verschoben, gleichzeitig wird die ödipale Struktur umgekehrt und richtet Chaos an: Phaidra begehrt ihren Stiefsohn Hippolytos, der durch seine Trägheit und seinen Egozentrismus die Untertanen seines Vaters Theseus tyrannisiert. Schließlich wird das Begehren zu groß und frisst die ganze Familie auf: Phaidra hängt sich, das Volk lyncht daraufhin Hippolytos als Schuldigen, und Theseus vergewaltigt und tötet aus Versehen seine Tochter Strophe. Das Thema "Liebe" wird hier von Kane fragmentiert, das unmögliche Begehren, dem sich Phaidra hingibt, richtet sich als Ausdruck der Gewalt gegen sich selbst.

Ebenfalls fragmenthaft, aber viel weniger naturalistisch dagegen ist "Gesäubert". In einer Psychiatrie verortet, wird das Thema "Liebe" hier an seine - auch physischen - Grenzen getrieben: Der Psychiater fügt seinen "Patienten" die extremsten Schmerzen und Verstümmelungen zu, um herauszufinden, wie weit ihre Liebe zu anderen geht, und welche Macht er sich dadurch über die Personen verschaffen kann. Dabei geschehen zwischen den Figuren Identitätswechsel: Die Personen glauben nicht nur, jemand anderes zu sein, sondern sie tragen auch äußerliche Kennzeichen der anderen (Kleidung funktioniert hier als "Haut"). Der Verfall spielt auch hier wieder die zentrale Rolle; und das Menschlichbleiben im Verfall.

Das Verschwimmen und die Auflösung der Oberflächen findet sich noch stärker in "Gier": alles ist immer nur Rückblick, nie Jetztleben. Die vier Personen (benannt A, B, C, M) verlieren ihre Konturen, es gibt keine klare Rollentrennung, vielleicht sind es insgesamt nur eine oder zwei Personen. Und, expliziter als in den vorigen Stücken: Das gleißende Licht, das andere Ende des Tunnels, das Erlösung und Auflösung verspricht.

Und so kulminiert Kanes Werk dann im letzten, kurz vor ihrem Tod geschriebenen Stück "4.48 Psychose". Der Kampf, der hier stattfindet, dreht sich - als notwendige Konsequenz aus der vorgehenden Entwicklung - nicht mehr um Krieg, Familie, Liebe, sondern hat sich ganz ins Ich hineinverlagert, spielt sich im und ums Bewusstsein ab. In der derzeitigen Aufführung des Stücks am Hamburger Schauspielhaus präsentiert sich "4.48 Psychose" als ein in einem nackten Raum angesiedelter, endloser, für Publikum wie Darstellerin (Ursula Doll) an die Nerven gehender Monolog, in dem nicht nach dem möglichen Sinn des Lebens gefragt wird, sondern vollends die Depression im Vordergrund steht.

Immer präsent ist in allen Stücken Kanes die brutale Apathie, mit der gehandelt und mit der die Handlungen kommentiert werden. Auch starke Emotionen, Schreien und Tränen wirken distanziert und kalt und gerade dadurch noch direkter. Kane seziert ihre Charaktere, und zwar nicht nur in ihrer Darstellung, sondern sie schneidet sie teilweise wirklich auseinander, trennt ihnen Gliedmaßen gleich Erinnerungen ab und löst sie schließlich ganz auf. So schwierig oftmals die reale Umsetzung auf der Bühne scheint (wie etwa soll man sich Regieanweisungen wie "die Ratten fressen ihn auf" vorstellen), so interessant ist es doch für Regisseure wie Darsteller, sich mit den Stücken zu befassen und sich auch den Implikationen der Stücke zu stellen.

Titelbild

Sarah Kane: Sämtliche Werke. Zerbombt. Phaidras Liebe. Gesäubert. Gier. 4.48 Psychose.
Übersetzt aus dem Englischen von Durs Grünbein u. a.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
256 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3499231387

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