Die jüdisch-deutsche "Bindestrichkultur"

Maxim Billers "Lesebuch" als politische Orientierung wider Willen?

Von Nina SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Zersetzungskrakeler! Ein Vivisektor! Eine bürgerlich inspirierte Kampfmaschine! Ein im Wolfspelz daherstürmender Moralist! Der Strafprediger wider die Memmen der Republik!", so porträtierte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu das "enfant terrible" der jüdischen Gegenwartsliteratur Maxim Biller im Februar 2001 in "Die Welt".

Ob Zaimoglus Formulierungen treffen und auf Biller tatsächlich anwendbar sind?

Natürlich- mehr als das. Im "Maxim-Biller-Lesebuch", einer Art "best-of-Album" seiner Werke aus den Jahren 1990 bis 2001, erhalten wir Deutschen einen jüdisch-deutschen Einblick in die NS-Vergangenheit, die eigentlich gar nicht so weit von der Gegenwart entfernt ist, wie wir immer zu wissen glauben.

Die Geschichten, die Biller zu erzählen hat, sind teilweise real, teilweise fiktiv, aber sie wirken niemals aufgesetzt oder gar erfunden. Seine Protagonisten leben und erleben, sie haben Sorgen, Ängste, Träume und befinden sich manchmal am Abgrund des Wahnsinns. Der Leser hat gar keine andere Chance, als sich ganz auf die sich vor ihm ausbreitende Geschichte einzulassen. Allerdings ist es kein angenehmes Schwelgen in einer Erzählung. Permanent hält Biller uns Deutschen den Spiegel vor, macht uns klar, dass wir ein Identitätsproblem haben, noch immer nicht über Geschichte sprechen können und "Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit" haben. "Geschichte ist in Deutschland immer nur Metternich, Bismarck und Hitler, der Westfälische Friede, der Siebenjährige Krieg, der Prager Fenstersturz. Geschichte steht in Deutschland immer nur in den Geschichtsbüchern, sie ist aber niemals Bestandteil der Gegenwart", schreibt Biller in der Kurzgeschichte "Deutscher wider Willen". Er macht das transparent und fassbar, was wir nur allzu gern euphemistisch zu glätten versuchen: die Geschichte ist nicht identitätslos, sondern besitzt ca. 6,7 Millionen tote Gesichter.

Die Überlebenden der Shoa, beziehungsweise die zweite und dritte Generation danach, gewähren uns einen kurzen Einblick in ihr Leben. Ob es nun Maxim Biller selbst ist, der in "Ein Meister aus Deutschland" von einer Fahrt nach Wilflingen im Kreis Biberach im Jahr 1994 berichtet, als er auf den Spuren Ernst Jüngers wandelt und ihn für sich persönlich "entlarvt": "Und natürlich hatte ich mich auch mit seiner angeblich ablehnenden Haltung in der Nazizeit befasst, die in Wahrheit alles andere als ablehnend gewesen ist und einfach nur das unausgesprochene Ressentiment eines hochnäsigen preußischen Salonherrenmenschen gegen die lauten und vulgären NSDAP- Straßenfetischisten." Oder ob man einer fünfzigköpfigen jüdischen Reisegruppe in KZs und auf Friedhöfe folgt, eines bleibt immer: die Ruhelosigkeit der Vertriebenen. Hier wird deutlich, dass die Überlebenden nicht nur durch die eintätowierten Nummern stigmatisiert, sondern auch die folgenden Generationen traumatisiert sind. Im Sinne Nietzsches wird das "Einbrennen" zum Instrument der Mnemotechnik: "Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis. [...] Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen [...] alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das wichtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet."

Maxim Biller weitet die Mnemonik im Wort aus. Er reizt, provoziert und macht nervös. Seine Sätze fungieren als Erinnerungsspeicher und geben Tropfen für Tropfen pure Geschichte an den Leser ab. Er greift uns Deutsche an der Wurzel unserer Vergangenheit. Er redet von Kollektivschuld und meint nicht das große Ganze, sondern jeden einzelnen. Er redet vom Patriotismus, der uns Deutschen verlorenging, aber "man darf den Reichsparteitag nicht mit dem Bundestag verwechseln, Stoiber nicht mit Hitler, die Wiedervereinigung nicht mit dem Anschluss Österreichs."

Die jüdisch-deutsche "Bindestrichkultur" wird wohl auf ewig existieren und nicht, wie einst gedacht, von einander getrennt sein. Ob wir wohl eine Art aristotelische Katharsis durch Biller erfahren? Er selbst schrieb in "Der letzte Hipster": "Jede Generation führt die Revolutionen, die es verdient." Welche führen wir?

Titelbild

Maxim Biller: Der perfekte Roman. Ein Maxim-Biller-Lesebuch.
dtv Verlag, München 2003.
270 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3423130873

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