Warum sind Vorlesungen langweilig?

Sind sie doch gar nicht - zumindest nicht in Ulrich Janßen und Ulla Steuernagels "Kinder-Uni"

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Traumhafte Zustände an der Universität: Der Hörsaal ist auch bei schönstem Sommerwetter bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Zuhörer sind trotz der Hitze voll bei der Sache, stellen interessierte Fragen über Fragen. Und der Professor ist ebenfalls hoch motiviert, hat sich sogar den einen oder anderen Gag einfallen lassen, um sein Wissen nicht einfach trocken runterzuleiern. Am Vorlesungsende gibt es begeisterten Beifall, anschließend natürlich lebhafte Diskussionen. So macht Uni richtig Spaß, oder? Das alles ist Realität an der Uni Tübingen. Eine kleine Pointe jedoch wäre noch zu erwähnen: Bei den begeisterten Zuhörer handelt es sich um - Kinder.

Vorlesungen für Kinder sind zweifelsohne eine bestechende Idee. Das "Schwäbinger Tagblatt" hat sie im vergangenen Jahr zusammen mit der Universität Tübingen in die Tat umgesetzt. Ein Semester lang war die Uni regelmäßig in Kinderhand. Nun ist das Buch zum Projekt erschienen: "Die Kinder-Uni. Forscher erklären die Rätsel der Welt". "Ein Buch ist keine Vorlesung", wissen auch die Autoren und Initiatoren des Projekts, Ulrich Janßen und Ulla Steuernagel, beide Redakteure des "Schwäbinger Tagblatts". Aber Bücher und Lesen gehören eben auch zur Uni, und so ist die Veröffentlichung nur konsequent.

Vor allem aber interessant. Und das auch für Erwachsene. Denn wer hat sich nicht bereits einmal Fragen gestellt wie "Warum speien Vulkane Feuer?", "Warum sind die Dinosaurier ausgestorben?" oder "Warum beten Muslime auf Teppichen?" und sich am Ende doch gescheut, darüber eigens dicke wissenschaftliche Fachbücher zu wälzen? Das ist nun nicht mehr notwendig. In der "Kinder-Uni" erklären Tübinger Forscher diese und weitere Fragen in so einfachen Worten, dass sie jedes Kind verstehen kann.

Doch das mussten die Professoren auch erst einmal lernen. Sie machten im vergangenen Jahr deshalb eine ganz neue Erfahrung, betonen Janßen und Steuernagel. Die Professoren hatten vor den Vorlesungen Lampenfieber! Auch für die routiniertesten Universitätslehrer war der Gedanke, Kindern tausend Fragen beantworten zu müssen und sich in ihrer Rede außerhalb ihrer gängigen Fachtermini zu bewegen, eine große Herausforderung. Die Vorbereitungen für die Kinder-Vorlesungen waren deshalb aufwändiger als sonst. Mit erstaunlichem Erfolg. Die Professoren erwiesen sich schnell als recht findig und einfallsreich, um ihren "Stoff" aufzupeppen. So trug der Wirtschaftswissenschaftler Eberhard Schaich für die Beantwortung der Frage "Warum gibt es Arme und Reiche" säckeweise süße Goldmünzen aus Supermärkten zusammen. Der Pathologe Edwin Kaiserling grub seinen toten Hahn "Goggel" wieder aus und brachte das Hühner-Gerippe im gläsernen Sarg mit in die Vorlesung. Und der Empirische Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hatte Lachsäcke im Gepäck.

Umgekehrt hatten die acht Professoren stets ein dankbares Publikum. "900 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren ließen an einem sehr heißen Tag das Freibad links liegen, um herauszufinden, warum man über Witze lacht", berichten die Autoren. Manche seien schon eine Stunde vor Beginn erschienen, um einen guten Platz zu bekommen. Überraschend viel Neugier für den Uni-Betrieb und seine akademischen Rituale hätten die Kinder aufgebracht. Natürlich wurde auch das Mensa-Essen dank "Kinder-Uni-Ausweis" getestet.

Vor allem aber waren die Kinder wissbegierig. Und sie lernten. Zum Beispiel, dass die Saurier genau genommen gar nicht ausgestorben sind. "Ein paar ihrer Nachkommen haben die große Katastrophe überlebt und leben mitten unter uns. Wir sehen sie jeden Tag. Sie heißen Spatz, Taube oder Amsel. Es sind die Vögel." Schließlich war der erste Vogel der Welt, der Archaeopteryx, von einem Dino kaum zu unterscheiden. Auch eine heikle - und für Kinder sehr zentrale - Frage wurde nicht ausgespart: "Warum ist die Schule doof?" Der Erziehungswissenschaftler Hans-Ulrich Grunder erläuterte natürlich die Vorteile der Schule, deren Besuch vor nicht allzu langer Zeit noch für breite Bevölkerungsschichten keine Selbstverständlichkeit war. Doch sparte er auch nicht mit Kritik, trat beispielsweise für die Ganztagsschule und die Abschaffung der Noten ein. Sein Fazit mag dennoch manchem Schüler nur ein schwacher Trost gewesen sein: Eigentlich "ist Schule eine tolle Erfindung [...]. Schule an sich ist überhaupt nicht doof. [...] Die Halbtagsschule, wie sie in Deutschland üblich ist, ist wirklich doof."

So zeigten die Vorlesungen den Kindern immer wieder vor allem eines: Dass es nicht immer einfache Antworten gibt. "Warum gibt es Arme und Reiche" versuchte Eberhard Schaich zu erklären, um am Ende festzustellen, dass die Welt nicht nur in Arm und Reich, "sondern auch in Meinungen darüber geteilt (ist), wie sich dieses Problem lösen ließe." Und der Pathologe Edwin Kaiserling, der den Alterungsprozess der Zellen, die Entstehung von Krankheiten erklärte, um zu verdeutlichen, warum Menschen sterben müssen, stieß mit seiner Bilanz "Der Tod gehört zum Leben dazu" vielleicht auch schlicht an die Grenzen seines Faches. Hier wäre eine interdisziplinäre Vorlesung interessant gewesen, in der ein Philosoph die Ausführungen des Mediziners ergänzt.

An dem Buch zum Projekt stört eigentlich nur, dass es sich bei den Vorlesungs-Artikeln nicht um die Originalbeiträge der Wissenschaftler handelt. Statt dessen haben die beiden Redakteure des "Schwäbischen Tagblatts" die Texte unter "wissenschaftlicher Beratung" verfasst. Zahlreiche Randbemerkungen, Anekdoten und Details ergänzen dabei den Haupttext, und der Anhang bietet ein Glossar wichtiger Begriffe der Universitätssprache - mit köstlichen Erklärungen. So erfährt man, dass der "Hiwi" durchaus kein "Kommando-Empfänger, Leibeigener oder Kofferträger" ist, auch wenn das Wort so klingen mag. Oder dass die Studenten schon im ersten Semester lernen, wie man richtig zitiert. "In den folgenden Semestern lernen sie dann, dass es nicht schadet, gelegentlich den eigenen Professor zu zitieren." Die - handwerklich ausgezeichneten - Zeichnungen des preisgekrönten Illustrators Klaus Ensikat sprechen allerdings in ihrer subtilen Ironie und Technik mehr ältere Leser an. Ein anderer Illustrator hätte hier vielleicht eher die Kinderherzen erobert.

Wissbegierige Kinder (und Erwachsene) werden in der Kinder-Uni ernst genommen. Das Erfolgs-Projekt wird übrigens fortgeführt. Auch in diesem Sommer bevölkern Jungen und Mädchen mit "Kinder-Uni-Ausweis" die Hörsäle in Tübingen. Spannende Fragen gibt es wieder zu klären: Warum darf man Menschen nicht klonen? Warum dürfen Erwachsene mehr als Kinder? Warum bin ich Ich? Warum träumen wir?

Die Kinder-Uni führt jedoch noch zu ganz anderen Fragen: Warum hat es so lange gedauert, bis jemand auf diese tolle Idee kam? Warum werden viele der Kinder später als Studenten voraussichtlich nicht mehr so begeistert die Vorlesungen verfolgen? Warum sind nicht alle Vorlesungen so witzig und interessant wie die der Kinder-Uni? Und warum folgen andere Unis nicht dem Tübinger Beispiel?

Titelbild

Ulrich Janßen / Ulla Steuernagel: Die Kinder-Uni. Forscher erklären die Rätsel der Welt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421056951

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