Unter lauter Verstummtem und Verstimmtem

Paul Celans Briefe an Diet Kloos in einer mustergültigen Edition von Paul Sars

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 1949 lernten sich die niederländische Studentin am Königlichen Konservatorium in Den Haag, Diet Kloos, und Paul Celan auf der Terrasse des Cafés Dupont mehr oder weniger zufällig kennen, als der 25-jährigen Studentin die kurz zuvor bei einem Bouquinisten an der Seine erworbenen "Memoires d'une âne" von Sophie de Ségur vom Schoß fielen. Celan hob das Buch für sie auf und erkundigte sich mit Interesse danach, wo sie dieses Buch gekauft habe. Es entwickelte sich ein auf Französisch geführtes Gespräch, wobei Celan sich nicht nur für das Studium von Diet Kloos, sondern auch für ihre Herkunft und Vergangenheit interessierte. Während sie ausführlich über ihre Erfahrungen während des Krieges, von ihrem Widerstand gegen die deutschen Besatzer, von ihrer Gefangenschaft und dem Mord an ihrem Ehemann berichtete, erzählte Celan von der Ermordung seiner Eltern, über die Zwangsarbeit und seine Flucht aus Rumänien. Danach wechselte die Sprache, weil Celan bat, das Gespräch auf Deutsch fortsetzen zu dürfen.

Es handelt sich bei dieser Begegnung um den Beginn einer knapp einjährigen Beziehung. Gegen die schier erdrückende Last der Vergangenheit verständigen sich Celan und Diet Kloos in der inständigen Hoffnung auf eine (gemeinsame) Zukunft. In der einen Ferienwoche, die beide in Paris verbringen, aber auch in dem darauf folgenden Briefwechsel bis zu ihrem Wiedersehen entwickeln sich fruchtbare Gedanken, die nicht zuletzt Auskunft geben über Celans Anfangszeit in Paris zwischen 1948 und 1950, eine Zeit, über die bisher recht wenig bekannt war. Während der von Peter Goßens und Marcus G. Patka herausgegebene Ausstellungsband "Displaced. Paul Celan in Wien 1947/48" die Wiener Zeit, eine bislang ebenfalls wenig erhellte und doch überaus wichtige, und die nachhaltige Begegnung mit Persönlichkeiten wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Klaus Demus, Milo Dor, Reinhard Federmann und Edgar Jené sowie Celans Stellung in der Wiener Avantgarde, die Orte der geistigen Auseinandersetzungen in Kaffeehäusern und Künstlertreffs, die Publikation des ersten Gedichtbandes "Der Sand aus den Urnen" erfasst, und der Briefwechsel mit Gisèle Celan-Lestrange die wichtigsten Ereignisse seit November 1951 beleuchtet, vermitteln die von Paul Sars edierten und kenntnisreich kommentierten Briefe Celans an Diet Kloos einen Einblick in den Zeitraum von August 1949 bis Juli 1950.

Der deutschsprachige jüdische Dichter, der nach seiner Flucht aus Rumänien und dem wenig erfolgreichen Aufenthalt in Wien nun endlich in Paris einen sicheren Wohnsitz zu finden glaubte, sieht sich der Leere ausgesetzt, die in den Briefen auf paradoxe Art und Weise Gestalt annimmt. Er befinde sich, wie er in einem der Briefe vermerkt, auf der Stelle, wo die Lebenslinie seiner Hand zum zweiten Mal abbreche, an einem Punkt, wo er sich von sich selber abspalte. Das Bild der Hand-Linien begegnet wiederholt auch in den Gedichten und den Briefäußerungen Celans. In einem Brief an Ruth Lackner vom 2. August 1949 heißt es etwa:´"In meinen Händen habe ich das Leben umgetauscht gesehen in sehr viel Bitterkeit, schließlich aber in eine Menschlichkeit, die mir den Weg vorschrieb, den ich einmal versucht habe zu gehen und den ich noch gehen werde, aufrichtig und überzeugt."

In Briefen an Nelly Sachs ist die Metaphorik der "regen Hand" verbunden mit den Gedichten und der Möglichkeit des Sprechens oder Handelns selbst, etwa im Brief vom 19. August 1960: "Du hast es immer noch so schwer und Du findest, Du Liebe, dennoch Worte - nein, Wortgeschenke für uns! Nelly, Liebe! Ich sehe, das Netz ist noch da, es läßt sich nicht im Handumdrehn entfernen ... Und doch: es ist zu entfernen, es kann und soll entfernt werden [...]. Du hast Deine Hände, Du hast die Hände Deiner Gedichte." Prägnant kommt der Zusammenhang von Hand, Wahrheit und Gedicht in dem bekannten Brief an Hans Bender vom 18. Mai 1960 zum Ausdruck: "Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht."

Die Briefe an Diet Kloos suchen stets ein Gegenüber, dem zugesprochen werden kann. Die für Celans Gedichte charakteristische dunkle und vieldeutige Sprechweise wird in den Briefen hörbar als eine persönliche Stimme an einen persönlichen Adressaten. Dies bestätigt - wie Celan später in der Büchner-Preis-Rede und der Bremer Rede verdeutlichen sollte -, dass seine so unverwechselbare Sprechweise nie als eine literarische Konstruktion erdacht wurde, sondern dass sie aus der konkreten Erfahrung der Sprachlosigkeit, der Verwundung, aus der Ohnmacht einer nur mühsam sprechfähigen Person erstanden ist. Das belegt die Sammlung der zwölf handschriftlichen Briefe Paul Celans an Diet Kloos eindrucksvoll, die, faksimiliert und transkribiert, zusammen mit ihren poetischen Beigaben - den Gedichten "Todesfuge", "Chanson einer Dame im Schatten" und "Rauchtopas" - abgedruckt werden. Außerdem bekam Diet Kloos ein Porträtphoto und einige Bücher. Den ersten Brief erhielt sie während ihres Aufenthalts in Paris, Anfang August 1949; der letzte Brief wurde am 20. Juli 1950 geschrieben, drei Tage bevor sich Diet Kloos und Paul Celan in Paris erneut begegnen sollten. Bedauerlicherweise lassen sich die etwa fünfzehn Briefe und Karten von Diet Kloos an Paul Celan nicht in dessen Nachlass auffinden. Vermutlich sind sie verloren gegangen oder vernichtet worden, wie viele Briefe, die Celan in seinen ersten Jahren in Paris empfangen hat. Erhalten geblieben ist lediglich der Entwurf eines Antwortschreibens auf Celans wichtigen vierten Brief vom 21. September 1949, in dem das oben erwähnte Bild der unterbrochenen Hand-Linien begegnet. Dieser Entwurf befindet sich in einem Notizheft von Diet Kloos, das daneben den Entwurf eines Schreibens enthält, das diese gleich nach ihrer Ankunft in Paris im August 1949 an ihre Eltern sandte. Ferner befinden sich in diesem Heft ein von Diet Kloos angefertigtes Manuskript von "Gegenlicht", 17 aphoristischen Texten, die am 12. März 1949 in "Die Tat", dem Literaturblatt der "Zürcher Zeitung", veröffentlicht wurden.

Celans Briefe an Diet Kloos sind, wie Paul Sars in seinem Nachwort unterstreicht, "in mehrfacher Hinsicht 'persönlich'", da sie "auf Freundschaft [...], manchmal sogar auf ein mögliches Liebesverhältnis" gerichtet sind. Ähnlich wie die Gedichte sind sie eine "Flaschenpost", ein auf die ungewisse Begegnung mit dem noch unbekannten Anderen gerichtetes Sprechen, das zugleich auch Selbstgespräch ist. Brief und Gedicht werden um ein solches Gespräch willen abgesandt und sind ihrer Struktur nach dialogisch: Das Gedicht ist, in Sars' treffender Formulierung, immer "Ge-du-ich-t". Sars beleuchtet in seinen Anmerkungen und dem Nachwort nicht nur die kurze Geschichte der Beziehung zwischen Paul Celan und Diet Kloos, sondern auch die literarische Dimension der Briefe und Beilagen, geschrieben in der, wie Celan es ausdrückte, "gestaltgewordenen Sprache eines Einzelnen", der sich an der Schnittstelle seines Lebens in Schrift zu verwandelt sucht: für den Anderen wie auch für sich selbst. So heißt es etwa im sechsten Brief vom 29. November 1949: "Wo aber liegen auf solchen Wegen die Briefe, sag? Wo ist, unter lauter Verstummtem und Verstimmtem, das Geschriebene aufzufinden? Ach ja, wenn man auf ein im Winde treibendes Blatt seinen Namen schreiben könnte, wenn man unter eine Regenzeile ein paar wetterfeste Buchstaben setzen könnte - dann wäre das wohl das Richtige getan! Aber so ..." Mit Druckfarbe geschrieben und signiert, wäre so ein Blatt im Winde genau jene "Flaschenpost", die Celan hätte schreiben wollen. Konsequent fordert er daher von seiner Briefpartnerin eine neue Form der lecture: "Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören, Diet: er möchte laut sein, vernehmlich, nur kann er's noch nicht." Schließlich kulminiert die Interdependenz von 'Sein' und 'Schreiben' in einer an Kafka erinnernden Wendung im siebten Brief vom 6. Dezember 1949: "Ich muß schreiben, Diet, dann lebe ich. Und wenn ich lebe, kann ich auch wieder Briefe schreiben."

Von diesem Unvermögen des Sprechen-Könnens zeugen wahrscheinlich auch die zaghaften Versuche einer Liebeserklärung in späteren Versuchen. Zwischen vielen hoffnungsvollen Worten verraten sie eine grundlegende Unsicherheit, indem sie die Suche nach einem Neuanfang als einen vielschichtigen und mitunter mühseligen Prozess offen legen. Das lange Schweigen Celans - immerhin vom 6. Dezember 1949 bis zum 20. April 1950 - wird sicher auch mit Celans Besuchen bei dem an Leukämie erkrankten Yvan Goll zusammenhängen. Dennoch erwähnt Celan weder seine ebenso plötzliche wie intensive Freundschaft mit dem Ehepaar Goll noch Golls Tod am 27. Februar 1950 und dessen Beerdigung am 2. März 1950, was um so erstaunlicher ist, als der Kontakt für Celan, wie der hervorragenden Dokumentation Barbara Wiedemanns zu entnehmen ist, sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Bereich eine Zeitlang wichtig war.

Die Briefe Paul Celans an Diet Kloos sind deshalb von so großer Bedeutung, weil sich in ihnen Celans Erkenntnis über die Kraft der Lyrik nach der Shoah mit den persönlichen Brüchen und Zäsuren seiner Pariser Zeit verbindet. Gerade in jenen mühevollen Anfangsjahren in der Stadt an der Seine zeigt sich, dass die Gedichte mehr als eine bloße Zuflucht sind. Fieberhaft auf der Suche nach einem neuen Ort, von dem aus es wieder möglich werden soll, sprechen zu können, bilden die von Schmerz durchzogenen Gedichte den beständigen Ausgangspunkt von Celans Dichten, wie er es im dritten Brief an Diet Kloos programmatisch formuliert: "Was ich brauche, was ich so dringend brauche, eben deshalb, weil ich so oft von mir weg muß, auf Reisen gehen muß - und wie unbequem ist dieses Reisen: ich selber bin dabei reglos, wechsle nicht den Ort, die Welt aber saust unter meinen Füßen vorbei! - was ich also brauche, ist das Gefühl, daß es bei all diesem Hin und Her einen Ausgangspunkt gibt, der, wenn er auch nie wieder erreicht werden kann, dennoch bestehen bleibt - ein solcher Ausgangspunkt wären meine Gedichte, wenn ich sie in Sicherheit wüsste, sauber abgedruckt und gebunden."

Titelbild

Peter Goßens / Marcus Patka (Hg.): Displaced. Paul Celan in Wien 1947-1948. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien vom 14. November 2001 bis zum 24. Februar 2002.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
176 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3518412736

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Titelbild

Paul Sars / Laurent Sprooten (Hg.) / Paul Celan: Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören. Briefe an Diet Kloos-Barendregt. Handschrift - Edition - Kommentar.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
142 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3518413589

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