Gras, das zwischen gespaltenen Pflastersteinen hervorbricht

Zwei Lyrikbände von Wolfgang Kubin

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand werde je alle seine Gedichte verstehen, so erklärt Wolfgang Kubin selbst mit entwaffnender Offenheit. In der Tat, zu viel müsste man dafür kennen: Wien, Berlin, Bonn, Celle (Kubins Geburtsort), Jerusalem, Barcelona, Chicago bis hin nach Peking, Shaoxing, Yangzhou; die Anekdoten und Gewohnheiten der von Kubin übersetzten chinesischen Dichter Bei Dao, Yang Lian, P. K. Leung, aber auch Mörikes "Feuerreiter", die Sage vom Mönch von Heisterbach, das Münchner Lyrik Kabinett - und vor allem die Bibel. Denn was immer sich an dieser Lyrik nicht sofort erschließt, entsteht nicht aus irgend einer Vagheit dieser Gedichte, sondern eben aus deren Präzision.

"Vor dem schiefen Garten / ist auch der Regen schief. / Auf schiefer Ebene / stürzen Häuser ein. / Das Exil des Gleichgewichts hat begonnen." Für diese fünf Verse ist der Titel "Jüdisches Museum Berlin" eine schwer verzichtbare Verständnishilfe. Aber nur wer die Erfahrung von Libeskinds 'Garten des Exils' im Regen selbst gemacht hat, wird die Exaktheit nachvollziehen können, mit der Kubin jenes sich dort einstellende Schwindelgefühl mit dem Horror stürzender Häuser - seien es die einer inneren Behaustheit in einem Denken oder konkret die des Krieges - ineins-assoziiert. Etwas wie ein semantisches "Exil des Gleichgewichts" herrscht in all seinen Gedichten (nicht umsonst hat Joachim Sartorius sein Nachwort zu Kubins erstem Band so übertitelt). So sind "Platanen im Kaufrausch" sowohl reale Bäume, die hemmend und mahnend inmitten des Bonner Kaufrausches stehen, als auch - indem die letzte Strophe deren Naturhaftigkeit auf ein 'Wir' überspielt - wir selbst, die wir in selbstzerstörerischer Weise unsere Wurzeln statt in die Naturweite von Kaufhaus zu Kaufhaus verzweigen und noch "gefällten Platanen" wünschen, sie möchten in einem "seligen Kaufrausch" der Umsatzsteigerung enden.

Auf jeder möglichen Ebene der Texte erwächst diese Vieldeutigkeit wie Gras, das sich beharrlich zwischen gespaltenen Pflastersteinen zum Licht drängt: bald in der Sprecherwahl, bald in der Kalkulation der Zeilenbrüche oder einem camouflierten Zitat. So nimmt Kubins Lyrik insgesamt die antike Bezeichnung der Dichtung als sermo obliquus konsequent ernst: sie weigert sich, die Dinge durch eine frontale Benennung als ein Vorgewusstes zu verschlagworten, sondern lässt sie gleichsam als unausgesprochenen Mittelpunkt eines prägnanten Neu-Sehens entstehen. "Ein großes Leben ist eine Schnabeltasse, / ein verworfenes Gebiß, / ein abgelegtes Hörgerät, / eine beschlagene Brille. // Lebensabend, die Sprache der Welt. / Todesmorgen, die Zeichen des Leibes." Nach der exakten Beobachtung eines Alternden, der auf ein achtenswertes Leben zurückblickt, folgt eine Reflexion, mit der das Gedicht einerseits an den die chinesische Lyrik so vielfach prägenden parallelismus membrorum erinnert und andererseits das Beobachtete in einer Weise sentenzenhaft kadenziert, die in der deutschen Literatur am ehesten im Barock zu verorten wäre.

Und wie die Lyrik jener Epoche ist auch die Kubins, vibrierend und ohne jede Bekenntnisangst, geprägt von einer protestantischen Ethik. Sie führt den Dichter zu einem brennend wahrgenommenem Verantwortungsbewusstsein vor der Geschichte: "Wo immer wir gehen und stehen / hat dies ein Ende nie. / Wachen Blickes finden wir, / was die Väter getan / und wir zu tragen haben." Oder zu sarkastischer Anklage der zeitgenössischen Missachtung des Lebens: "Kinder sind federleicht. / Aus dem 15. Stock geworfen ...".

Die Selbstverständlichkeit dieser christlichen Grundhaltung bedingt, dass Passagen einer archaischen biblischen Diktion nicht fehl am Platze wirken: etwa fügen sich die Worte des letzten Abendmahls in die Schilderung des "Jedesmal danach" einer Liebesnacht, ohne als Blasphemie zu wirken; und der Zyklus "Ein Jahr in Jerusalem", der sich mit dem Schicksal der nach Israel Ausgewanderten befaßt, wird skandiert von Fragen, die an das Buch Kohelet erinnern: "Was ist eines Menschen Sprache?" / "Was ist eines Menschen Schweigen ...?" / "Was ist eines Menschen Bleibe ...?" / "Was ist eines Menschen Schlaf ...?" / "In welcher Sprache leben wir ...?" Wegen dieser ethischen Grundierung ist Kubins Lyrik - trotz ihrer Zitatfreudigkeit - nichts weniger als ein postmodernes Ratespiel, sondern ein mühsam immer neu zu erlernendes und zu erringendes Wider-Sprechen-Wollen der eigenen Zeit: "Laß mich verlernen / den Weg nach Babel. / Laß mich lallen / wie von Anfang an / [...] / über dem Wasser / oder unter dem Atem." Über dem Wasser, über dem nach der Genesis der Geist Gottes schwebt; unter dem Atem im Sinne des englischen "beneath his breath", d. h. wissentlich leise, oder unter dem Atem des Geistes, der weht, wo er will.

Die entscheidende Strategie, mit der sich diese Lyrik gegen das flüchtige Kauderwelsch der Zeit immunisiert, ist ihr Rhythmus. (Sollte man für ihn 'Ahnherren' in der Literaturgeschichte benennen, müssten es, von Kubin auch eigens gewürdigt, Lenau und Benn sein.) Subtil schleicht sich dieser Rhythmus ins Unterbewusstsein des Lesenden und verstärkt die Wirkung der aufgerufenen Bilder. Vor allem die kurzen Gedichte sind auf seiner Basis gleichsam 'zielkomponiert': sie erzeugen am Ende des letzten Verses eine Fermate des Denkens, während deren der Leser den Bildeindruck innerlich vervollständigt. Dem entsprechend sind für Kubin die metrischen Bezeichnungen "Hebung und Senkung" existentielle Metaphern.

Das Leben selbst sieht Kubin als ein Oszillieren zwischen "Zweifel und Verzweiflung", der zweifelnden Distanznahme von den beobachteten Zuständen der Welt und einem Zurückfedern und Zurückscheuen vor dem unproduktiven Zustand letzter Verzweiflung. Ein Buch- und Gedichttitel "Das neue Lied von der alten Verzweiflung" wird im deutschen Ohr unwillkürlich den Gedanken an 'neuen Wein in alten Schläuchen' aufrufen (und vielleicht wäre die Assoziation Kubin nicht einmal unlieb), doch er spielt auch damit, dass die meisten nicht-sinologischen Leser nicht von jener balladesken chinesischen Verserzählung wissen, die "Das Lied von der dauernden Verzweiflung" heißt und anhand einer Liebesgeschichte eine fatalistisch-pessimistische Weltsicht vermittelt. Aber bei Kubin ist es nun eben keine dauernde Verzweiflung, sondern die 'alte Verzweiflung' des Menschen, die das erwähnte programmatische Gedicht mit dem Tod assoziiert und die in immer 'neuen Liedern' - wie in der Psalmenwendung - zu bewältigen Kubin als die Aufgabe seines Dichtens begreift. Dafür verpflichten sich diese Lieder einer achtsamen und radikal individuellen Seismographie von Menschen (Dichterfreunden oder, vor allem im zweiten Band hinzukommend, einer geliebten Frau), Orten (Städten, Plätzen, Friedhöfen oder Wohnungen) oder Facetten einer Zeit, in der selbst ein "Dichter ohne Handy" ein lyrikfähiges Sujet geworden ist.

Freilich weiß diese Lyrik - in einem von Kubins schönsten Liebesgedichten - um das Prekäre jeder von ihr selbst geschaffenen "Endgestalt":

Welche Gestalt gewinnen wir
am Ende eines Textes?
Ein Leib, aus dem Schatten
ins Licht übersetzt,
kennt keine Nacht.
Was trägt ihn zurück?
Kreatürliche Lebendigkeit in das Licht der Sprache zu überführen - und sei es die der Lyrik - bedeutet, ihr schicksalhaft ihre rätselvolle menschliche Komplexität ein Stück weit ab-zu-sprechen. Aus diesem Dilemma heraus führt nur die Liebe, im Sinne von caritas: die keineswegs unkritische, sondern auf das Mitmenschliche zielende Wahr-Nehmung der Welt. Sie erzieht und befähigt das Dichten, "Schatten zu sein dem Erlebten" - und als solcher von diesem unzertrennlich.

Titelbild

Wolfgang Kubin: Das neue Lied von der alten Verzweiflung. Gedichte. Mit einem Nachwort von Joachim Sartorius.
Weidle Verlag, Bonn 2000.
116 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3931135446

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Kubin / Bei Dao: Narrenträume. Gedichte.
Weidle Verlag, Hamburg 2002.
120 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3931135624

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch