Ein Käfig ging einen Vogel suchen

Harald Weinrichs Textgrammatik der deutschen Sprache bei Olms

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Weinrich hat seiner Textgrammatik als Motto ein ebenso schönes wie vieldeutiges Wort Franz Kafkas vorangestellt: "Ein Käfig ging einen Vogel suchen." Ein herrliches Geleitwort für ein sprachwissenschaftliches Werk - und ein eigener kleiner Text der Gattung Märchen.

Textgrammatik heißt Weinrichs Buch, weil es ihm um die Beschreibung der sprachlichen (textlinguistischen) Mittel geht, die den Zusammenhang von Texten stiften, und weil Sprachkultur nur als Textkultur begreifbar ist: "Diese Grammatik versteht die Phänomene der Sprache von Texten her, da eine natürliche Sprache nur in Texten gebraucht wird." Weil eine natürliche Sprache ohne Dialog undenkbar wäre und schon der einfachste Dialog auf einen Text beziehbar ist, der das bloße Wechselspiel von Rede und Gegenrede transzendiert, ist eine Textgrammatik in Weinrichs Sinne zugleich eine "Dialoggrammatik". Die linguistische Beschreibung führt sich daher auf eine "Grundeinheit", die "Kommunikative Dyade", zurück:

"Konstitutiv für den dialogischen Charakter der Sprache sind in erster Linie die GESPRÄCHSROLLEN ("Kommunikanten"). Die beiden primären Gesprächsrollen sind der SPRECHER (= 1. Person: 'ich') und der HÖRER (= 2. Person: 'du')." Für schriftliche, insbesondere auch literarische Texte gilt, daß auch der Schriftverkehr zwischen einem Schreiber (Autor) und einem Leser dialogisch verstanden wird.

Textualität beruht "weitgehend auf Klammerbildungen im Text". An die Stelle des Satzes und der Satzklammer als traditioneller Bezugsgrößen der Grammatik tritt daher die Textklammer in Gestalt von Verbalklammer, Nominalklammer und Adjunktklammer: "Die deutsche Sprache kann in diesem Sinne eine Klammersprache genannt werden." Im Determinationsgefüge des Textes werden "grammatische Anweisungen" wie Anaphorik, Kataphorik, Junktion und Wortbildung ausgemacht, die die Lese- und Verständnisrichtung vorgeben. Die Verben werden als "Organisationszentren der Texte" aufgefasst; sie haben unterschiedliche textuelle Valenzen, "die über das tatsächliche Vorkommen von Handlungsrollen bei einem Verb in einem gegebenen Text" Auskunft geben. Grundbegriffe wie Gesprächs-, Handlungs- und Referenzrolle, Horizont und Fokus unterstreichen die kulturanthropologische Argumentationsführung dieser Grammatik. Zum "Prinzip Sprachkultur" gehört, dass, wo immer es möglich ist, "Texte von kulturellem Rang" zitiert und dabei auch ältere Texte berücksichtigt werden, die aufgrund ihres ästhetischen Ranges zum Bestand der "Gegenwartssprache" gerechnet werden können.

Gleich zu Beginn trifft Weinrich eine zentrale Vorentscheidung, indem er davon ausgeht, dass das Verb im Deutschen grundsätzlich zweiteilig sei. Er weist darauf hin, dass auch die wenigen einteiligen Verben "virtuell zweiteilig" seien, denn bei den zusammengesetzten Tempora, bei Passivkonstruktionen, bei der Modalklammer treten immer die beiden Elemente "Vorverb" und "Nachverb" auf, und bis auf Präsens und Präteritum sind alle Tempora des Deutschen "zusammengesetzte Tempora". In diesen Zusammenhang gehört noch ein weiterer Ansatz dieser Grammatik, nämlich die "Konstitution beim Verb". Unter Konstitution versteht Weinrich einen Wortbildungstyp, der nur beim Verbum auftritt und für die Klammerstruktur des Deutschen eine bedeutende Rolle spielt: Durch Konstitution kann ein einteiliges Verb mit einem anderen Sprachzeichen zu einem zweiteiligen Verb verbunden werden und nun eine "lexikalische Verbalklammer" bilden. Und es sind gerade die besonders elementaren und "leiblichen" Verben, die sich für die Konstitution eignen; zum Beispiel "gehen", "nehmen", "stellen", die - lexikalisch einteilig - durch Konstitution zweiteilig werden: "gehe--spazieren", "nehme--an", "stelle--auf" und so weiter.

Die Bedeutung einer Textgrammatik lässt sich nicht zuletzt am Druckbild ablesen, denn dieser Band ist weder bloße Beispielsammlung noch Nachschlagegrammatik, er präsentiert einen über weite Strecken diskursiv abgefassten, durchlaufenden Text, der vergleichsweise wenig durchbrochen wird von Tabellen, Grafiken oder zweispaltig gesetzten Beispielsammlungen. Folglich steht auch die Beschreibung der Probleme und Lösungen in einem textuellen Zusammenhang; sie hat das Ziel, "die Beschreibung der deutschen Sprache gut verstehbar, angenehm lesbar und leicht erlernbar zu machen" (Präambel). Die Beispiele sind so ausgewählt, dass sich der aktive Rezipient mühelos Kontexte aus ihnen bilden kann: Das Kapitel etwa, das sich mit dem Vergleich beschäftigt, bevorzugt Exempla aus dem Bereich der Kunst ("Martin Schongauer ist [genau/fast/längst nicht] so bedeutend wie Dürer").

Dieser Kunstgriff dient dem Prinzip der "Lesbarkeit" der Grammatik. Das Kapitel über den Gebrauch der Zahlen stützt sich auf Belegstellen aus der Bibel ("Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische", Luk. 9, 13), im Kapitel über die Adjektive steht das Thema "Berlin" im Mittelpunkt, die Beschäftigung mit dem situativen Infinitiv wird uns am Beispiel eines Kochrezeptes schmackhaft gemacht. Dahinter steht der Wunsch, anhand systematischer Beschreibung der Regularitäten des Deutschen auch zugleich Wissen über unsere Kultur und speziell "landeskundliches" Wissen über die Deutschen zu vermitteln. Prominentestes Textbeispiel dürfte ein Passus aus dem Vereinigungsvertrag sein, der hinsichtlich seiner Tempusdistribution analysiert wird.

Der Begriff der "Handlungsrolle" ist ein zentraler Fachterminus dieser Textgrammatik und zielt mitten ins Herz einer anthropologisch fundierten Grammatiktheorie. Zwei der drei Handlungsrollen sind als "Subjekt" (Kasus: Nominativ) und "Objekt" (Kasus: Akkusativ) bekannt, die dritte Rolle firmiert als "Partner" und wird durch den Dativ markiert. Mit dem Partner ist die Rolle gemeint, "auf die sich die Handlung richtet". Von den Handlungsrollen unterscheidet die Olms-Textgrammatik die "Gesprächsrollen". Sie belegen erneut Weinrichs Grundüberzeugung, dass Sprache generell als kommunikatives Handeln zu verstehen sei und auf der kommunikativen Dyade (mit der Blickstellung "von Angesicht zu Angesicht"), beruhe. Um dies auch in der Terminologie deutlich zu machen, weicht Weinrich von der traditionellen Nomenklatur 1./2./3. (grammatische) Person (Singular und Plural) ab und spricht von den Gesprächsrollen "Sprecher", "Hörer" und "Referenzrolle". Sprecher und Hörer bilden die primären Gesprächsrollen, die Referenzrolle ("3. Person") ist demgegenüber eine "Restkategorie"; sie bezeichnet all das, worüber gesprochen wird. Auffällig weicht die Gliederung von der Zweiteilung der Duden-Grammatik (1. Das Wort, 2. Der Satz) ab, indem sie die wesentlichen Kategorien auf neun Kapitel verteilt: 1. Grammatische Theorie, 2. Das Verb und sein Umfeld, 3. Das Verb und seine Einstellungen, 4. Das Nomen und sein Umfeld, 5. Das Adjektiv, 6. Das Adverb, 7. Syntax der Junktion, 8. Syntax des Dialogs, 9. Wortbildung.

Der ,Weinrich' wendet sich gezielt auch an ausländische Benutzer. Bei den Verben mit starker Konjugation bietet er dem Deutschlehrer und -lerner mnemotechnische Hilfsbrücken an: Bei Verben mit der Ablautreihe a/i/a (Beispiel: schlafe/schlief/geschlafen) soll der Lerner an "Aida" denken, bei der i/a/o-Konjugation an "Picasso". Auch idiomatische Wendungen werden einer grammatischen Analyse unterzogen; so neigen Sprichwörter zur Verschmelzung von Präposition und Artikel: "Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen".

Ein Prinzip dieser Textgrammatik lautet "Eine Form - eine Bedeutung", gut ablesbar an den Präpositionen. Selbst bei den Präpositionen mit fester Verbverbindung wird eine Grundbedeutung angenommen. Die Bedeutung der Präposition "für" zum Beispiel wird mit dem Merkmal "Tausch" beschrieben: "Diese Bedeutung, die eine fundamentale anthropologische Geste ausdrückt, interpretiert die Interaktion der kommunikativen Dyade als einen Tauschverkehr des Gebens und Nehmens (Zeichentausch, Wertetausch, Warentausch)."

Weinrichs "Textgrammatik der deutschen Sprache" erschien zuerst 1993 im Bibliographischen Institut Mannheim. Dort war sie seit einigen Jahren vergriffen, bevor jetzt die zweite, revidierte (das heißt im wesentlichen um Fehler bereinigte) Ausgabe im Georg Olms Verlag vorgelegt werden konnte, wo sie Teil eines linguistisch anspruchsvollen Verlagsprogramms ist: Bei Olms wurden unter anderem Leo Spitzers "Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft" nachgedruckt, hier legte Klaus Brinkers seinen Reader "Aspekte der Textlinguistik" vor, und hier erscheint die Zeitschrift "Germanistische Linguistik". Die deutsche Textgrammatik war das erste Buch, das der Linguist und Romanist (geboren 1927 in Wismar) als Emeritus vorlegte; seit vierzig Jahren ist er einer der führenden deutschen Sprach- und Literaturwissenschaftler von internationalem Renommee. Seine zahlreichen Arbeiten, von seinem "Tempus"-Buch (1964) angefangen, über seine diversen Aufsatzsammlungen, bis hin zu seinen beiden Textgrammatiken, der deutschen und der französischen (1981, franz. 1989), haben der Forschung wichtige Impulse gegeben und werden immer wieder neu aufgelegt. Im Frühjahr erschien sein Buch "Sprache, das heißt Sprachen" im Gunther Narr Verlag, Tübingen in einer Neuauflage. Es enthält im Anhang ein vollständiges Schriftenverzeichnis, in dem man auch eigene Dichtungen findet, die vom kreativen Umgang mit der Sprache Zeugnis ablegen

Titelbild

Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. 2. Revidierte Auflage.
Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl und Eva-Maria Willkop.
Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 2003.
1112 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 348711741X

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