40 Jahre unterm Regenbogen

In der edition suhrkamp ist bundesrepublikanische Geistesgeschichte aufgehoben

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Sound of Frankfurt" ist eine Art musikalisches Volksfest, das am vergangenen Wochenende einmal mehr zwischen Konstabler Wache und Roßmarkt tobte und Vergnügungswillige wie auch Anwohner durch diverse Bands und Techno-DJs bis vier Uhr nachts wach hielt. Es handelt sich beim Titel der Veranstaltung allerdings um einen verwirrenden Etikettenschwindel! Der "Sound of Frankfurt" nämlich kam ursprünglich nicht aus riesigen Lautsprecherboxen, sondern aus der Frankfurter Lindenstraße. Er ist in regenbogenfarbene Cover gehüllt und konstituiert sich durch Interpreten wie Brecht und Adorno, Bloch und Enzensberger, Benjamin und Frisch, Wittgenstein und Barthes. Der eigentliche "Sound of Frankfurt" hört auf den Namen edition suhrkamp, klingt nach Utopie und kritischem Geist und zeichnet sich durch besondere stilistische und literarische Formen, Essay und Theorie aus, wie es der momentan verantwortliche Lektor der Reihe, Alexander Roesler, formuliert. Zu ihren Hochzeiten in den 60er und 70er Jahren brachte die "es" die Verhältnisse tatsächlich ein wenig zum Tanzen.

1963 wurde die Reihe in verlegerischer Weitsicht von Siegfried Unseld aus der Taufe gehoben. Inzwischen sind über 2.300 Bände erschienen, durchnummeriert und nach einem schlichten wie genialen Entwurf von Willy Fleckhaus in 48 Farben des Sonnenspektrums gehalten. Am Sonntag feierte man das Jubiläum mit einer Matinee im Sendesaal des Hessischen Rundfunks und einer nachmittäglichen Gartenparty samt Lesung im ehemaligen IG Farben-Haus, wo die Frankfurter Universität seit kurzem beheimatet ist. Dass dieses Fest so Wand an Wand mit einer Tagung "zur Lebendigkeit kritischer Gesellschaftstheorie" aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno stattfand, war wohl Zufall - ein hübscher und bezeichnender überdies.

Bei Suhrkamp heißt Jubiläumsfeier nicht unbedingt, die Sektkorken knallen zu lassen. Eher hat so eine Feierlichkeit etwas von der Zelebrierung eines ausgedehnten Wortgottesdienstes. Vor drei Jahren beging man den 50. Geburtstag des Verlages mit einer konzentrierten Lesung im Frankfurter Schauspiel, bei der 13 Autoren auf dem Podium aufgereiht waren wie zum letzten Abendmahl. Die zweistündige Inszenierung des 40. Geburtstages der "vielleicht wichtigsten Buchreihe der Republik" - so kündigte es der die Veranstaltung live übertragende Hessische Rundfunk an - lockerte die Liturgie ein wenig auf. Dass man es hier letztlich mit einem sakralen Gegenstand zu tun hatte, stand allerdings außer Zweifel. Dazu gehört ein ordentlicher Gründungsmythos: Die historische Zusammenkunft im Juni 1962 in Wasserburg, wo Unseld mit ausgewählten Autoren den Plan zur "es" diskutierte, stellte für Norbert Gstrein in seinem Grußwort nichts geringeres als den "Anfang vom Ende der Nachkriegszeit" dar. Falls das übertrieben sein sollte, dann zumindest nicht sehr.

Der darin sich ausdrückende Anspruch beinhaltet freilich auch eine enorme Verpflichtung. Die Lektoren Raimund Fellinger und Alexander Roesler versicherten sich der glorreichen Vergangenheit, beschworen aber vor allem die zweifelsohne unübersichtliche Zukunft: "Unterm Regenbogen" würden auch noch mit Band 3.000 die "neuesten Stichworte zur geistigen Situation der Zeit" geliefert. Welches die neuesten Stichworte sind, lässt sich allerdings nicht mehr so leicht sagen wie noch in den frühen Jahren der "es": Damals bestimmte der "Geist der Utopie" (Ernst Bloch) das Denken. Aber heute? Eine prominent besetzte Diskussionsrunde versuchte sich an dieser Frage - neue Fragen aufwerfend: Kann Utopie nur noch gedacht werden, wenn man nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Last der negativen Begründung des Begriffs immer mitdenkt, wie Ulrich Beck sagt? Oder ist der Terminus dann desavouiert, wenn die Fernsehserie "Klinik unter Palmen" den "besten Kommentar zum Stand der Utopie" (Peter Sloterdijk) abgibt? Wandert das utopische Denken in die Biowissenschaften, die dazu in der Lage seien, ihr Programm auch tatsächlich zu verwirklichen, wie Sybille Krämer meint? Steht nun also der "Körper und nicht mehr der Volkskörper" (Thomas Meinecke) im Zentrum utopischer Fantasien?

Weniger theoretisch, dafür launiger ging es in einer anderen Runde im Rahmen der Matinee zu: Thomas Rosenlöcher, Christoph Schlingensief, Angela Krauß, Iris Hanika, Albert Ostermaier und Josef Winkler gaben über ihre prägenden Erlebnisse mit "es"-Büchern Auskunft. Letzterer erzählte von seiner Jugendzeit auf dem elterlichen Bauernhof. Weil Geld nicht vorhanden war, gab es "keine Bücher außer ein paar Gebetsbüchern". Notgedrungen musste Winkler den Vater bestehlen, um an Lektüre zu kommen. Eines der quasi durch Mundraub erworbenen Bücher war Peter Weiss' "Abschied von den Eltern", das sich auf dem Podium fast als Favorit der unterschiedlichen Autorencharaktere herausmendelte. Eine ganz neue Welt sei ihm durch Peter Weiss erschlossen worden, so Winkler. Darauf gründete sich sein Wille zur Literatur: "Eines Tages wirst du ein Buch schreiben, sagte ich mir. Mit 40. Aber ich hab dann doch früher angefangen." Christoph Schlingensief schließlich brachte auf den Punkt, was das Faszinierende an der edition suhrkamp ist: "Man hat das Gefühl, es gibt doch so etwas wie ein Archiv, ein Gedächtnis." Tatsächlich: Im Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre lässt sich ohne große Übertreibung behaupten, dass ein Gutteil bundesrepublikanischer Geistesgeschichte in der "es" aufgehoben ist.

Titelbild

Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Redaktion: Raimund Fellinger. Sonderdruck edition suhrkamp.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
102 Seiten, 4,00 EUR.
ISBN-10: 3518067192

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