Endlich wieder Magie in der Muggel-Welt

"Harry Potter" verzaubert seine Leser auch im fünften Schuljahr

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harry Potter zaubert wieder - und die Muggel-Welt steht erneut Kopf. Bereits die englischsprachige Ausgabe des fünften Bandes hat alle Rekorde geschlagen. Kein Zweifel: Harry Potter ist auch in seinem fünften Schuljahr der fulminanteste Bucherfolg der Geschichte. Doch das ist das kleinere Wunder, wie der Literaturwissenschaftler Michael Maar im vergangenen Jahr in seinem Essay "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte" festgestellt hat. Das größere Wunder nämlich sei, so der Thomas-Mann-Experte: "Er hat es verdient."

Denn Harry Potter ist, allem Medien-Rummel und allen PR-Strategien zum Trotz (Stichworte: Geheimniskrämerei des Verlages, Diebstahls-Meldungen vor der Auslieferung des neuen Bandes, das Medienmärchen vom "Aschenputtel" Joanne K. Rowling, die ihre ersten Romananfänge auf Servietten geschrieben haben soll etc.), eben nicht einfach nur ein genialer PR-Coup. Klaus Kämpfe-Burghardt, Marketing-Geschäftsführer des deutschen Lizenznehmers Carlsen dazu: "Sie können die tollste Werbung machen, wenn das Buch das nicht trägt, entdecken die Leser sehr schnell, dass dies eine Schummelpackung ist - und dann schlägt es zurück." Harry Potter aber ist es offensichtlich nach wie vor unschlagbar.

Das kollektive Kopfschütteln der Literaturkritik bezog sich dabei, vom Verkaufserfolg abgesehen, bislang nicht nur darauf, dass Rowling mit dem kleinen Zauberlehrling sämtliche gängigen Kinderbuch-Regeln über den Haufen geworfen hat, die beispielsweise besagen, ein Kinderbuch über 240 Seiten werde von Jungen und Mädchen überfordert zur Seite gelegt. Inzwischen kämpfen sich 13-Jährige durch den 766 Seiten starken englischsprachigen (!) Band. Vor allem aber greifen auch wieder Millionen von Erwachsenen begeistert zu diesem Wälzer. Wie das alles möglich ist und warum ausgerechnet Harry Potter in Zeiten von Internet und Playstation solch eine Euphorie auslöst, darüber ist bereits viel geschrieben worden. Neben Michael Maar haben ganze Harry-Potter-Tagungen das Rätsel zu lösen versucht. Als Entwicklungs-, Bildungs-, Familien-, Gesellschafts-, Abenteuer-, Detektiv- oder Heldenroman sind die Bände gedeutet worden. Sie wurden schon aus kindertherapeutischer, theologischer oder psychoanalytischer Sicht interpretiert. Es wurde auf die Intertextualität der Bücher hingewiesen und die ganze Tradition der phantastischen Literatur wurde bemüht.

Wer allen Ernstes die Frage, wieso auch Erwachsene von Harry Potter so verzaubert werden, für unerklärlich hält, hat in seinem Dornröschen-Schlaf nicht nur verpasst, dass gute Kinder- und Jugendliteratur von Lewis Carroll bis Michael Ende von je her alle Altersgrenzen überschritten hat. Ihm darf zudem eine gewisse Überheblichkeit gegenüber der Kinderbuch-Literatur bescheinigt werden, die sich auch in ihrer konsequenten Vernachlässigung in der Literaturkritik widerspiegelt. Eine Überheblichkeit, wie sie sich noch im distanzierenden Ironiegestus vieler Harry-Potter-Rezensionen ausdrückt. In der Regel wird, wie Hans-Heino Ewers betont, Kinder- und Jugendliteratur aus der Allgemeinliteratur ausgegrenzt und ästhetisch nicht für voll genommen.

Genau diesen Anspruch, Kinderliteratur als Literatur ernst zu nehmen, hat nun aber zweifelsohne die Harry-Potter-Heptalogie. Rowlings intelligentes Spiel mit den Traditionen der phantastischen Literatur, mit Mythen und Sagen macht einfach Spaß. Ihr Zauberer-Kosmos ist vollgestopft mit sorgfältig gestalteten Figuren, witzigen Details und herrlich ironischen Dialogen und Reflexionen. "That's what they should teach us here", vermag im neuesten Band der verliebt-verwirrte Harry angesichts der unerklärlichen Reaktionen seiner Angebeteten nur zu denken, "how girl's brains work ... it'd be more useful than Divination, anyway".

Rowlings Zauberwelt ist den Lesern durchaus vertraut. "Zauberer und Muggels haben die gleichen Probleme, sie lösen sie nur anders." Das heißt zum Beispiel: Auch Zaubererkinder müssen brav in die Schule gehen und für Prüfungen büffeln. Allerdings lernen sie dort wohl ungleich interessantere Dinge, wie die Pflege magischer Kreaturen oder den (recht schwierigen) Umgang mit dem Zauberstab. Der Geschichtsunterricht ist freilich auch in Hogwarts unsäglich langweilig. Diese Perspektive der Romane verfremdet jedoch nicht nur Vertrautes und bringt einen Hauch Magie in die Muggelwelt, in der sich die phantastischsten Dinge verbergen und eine gewöhnliche Telefonzelle unvermittelt zum Eingang ins Zauberei-Ministerium werden kann. Sie schafft zugleich, wie Kaspar H. Spinner betont, auch einen reizvoll-befremdeten Blick auf die alltägliche reale Welt, die nämlich den Zauberern als seltsam erscheint - man denke nur an "Muggelkunde" als Schulfach in Hogwarts.

Die Autorin hat es dabei nicht nur stets verstanden, die Fäden der Handlung innerhalb eines Bandes geschickt zu verknüpfen. Sie behält auch stets den großen Spannungsbogen im Blick. Niemand wird vergessen, so scheint es, und zahlreiche kleine Randbemerkungen werden später unverhofft wieder aufgegriffen und wichtig: "Das Werwolf-Motiv taucht im ersten Band auf; im dritten wird es zentral. Im zweiten Band kostet Harry vom Vielsaft-Trank, und die Probe eines kleinen Zauberstabduells findet statt. Im vierten Band entscheidet der Trank über den Plot, und beim Zauberstabduell kommt Harry fast um", erläutert Michael Maar. Im fünften Band nun treffen Harry, Hermine und Ron in der geschlossenen Abteilung des St. Mungo's Hospital unverhofft auf den - im zweiten Band - durch einen Vergessenszauber belegten Professor Gilderoy Lockart. Vor allem aber wird noch stärker als bisher das Eigenleben der, in anderen (Kinder- und Jugend-)Büchern oft vernachlässigten Nebenfiguren immer wieder liebevoll herausgearbeitet. So muss Ron beispielsweise von seiner kleinen Schwester Ginny nebenbei erfahren, dass sie längst nicht mehr wie im zweiten Band abstrakt für Harry schwärmt, sondern konkret mit einem Jungen namens Michael Corner ausgeht.

Das große Thema in "The Order of the Phoenix" ist grob gesagt der Konflikt zwischen Hogwarts Schulleiter Dumbledore und dem Zauberei-Ministerium, das mit Dolores Umbridge, dem ersten offiziellen "High Inquisitor" und der ersten weiblichen Lehrerin im Fach "Defence Against the Dark Arts", ein wachsames Auge auf die Aktivitäten der Schule wirft. Denn Minister Cornelius Fudge befürchtet, das ganze Gerede von "You-Know-Who is back" sei nichts anderes als eine Intrige Dumbledores, um ihn zu stürzen. Das neue Schuljahr in Hogwarts ist, mit Harrys Abenteuern in den ersten vier Bänden verglichen, dann oberflächlich betrachtet von den Alltagssorgen der Schüler bestimmt. Während Voldemort im Verborgenen seine finsteren Pläne schmiedet, seine Truppen formiert und auch Dumbledores Phönix-Orden im Geheimen agiert, müssen sich die Fünftklässer auf die wichtigen OWL-Prüfungen vorbereiten, die über ihre späteren Berufswege entscheiden, strickt Hermine unermüdlich Mützchen für die Befreiung der Hauselfen und steigt Ron zum neuen "Keeper" des Gryffindor-Quidditch-Teams auf.

Eine der großen Stärken Rowlings ist ihre Beobachtungsgabe und komplexe Psychologie. Nicht nur erlebt Ron alle Höllen des Lampenfiebers vor seinem ersten Quidditch-Spiel. Auch das Verhältnis der beiden Freunde Harry und Ron erfährt eine bemerkenswerte Wendung, als Ron noch einen weiteren Schritt aus dem Schatten Harrys macht, indem er, und nicht Harry, zum "Prefect" des Hauses Gryffindor bestimmt wird. Und schließlich erhält Hermines Mitleid für die Hauselfen eine neue Dimension, als sich die respektlose Behandlung des, zugegebenermaßen verlogenen, hasserfüllten Hauselfen "Kreacher", bitter rächt. "Kreacher is what he has been made by wizards, Harry", erklärt Dumbledore am Ende - und Rowling wirft damit so ganz nebenbei einige (auch beim Thema Zentauren mitschwingende) ethische Fragen auf. Mit Dolores Umbridge jedoch hat die Autorin diesmal eine oberflächliche Figur, unsympathischer noch als die Dursleys, in die Potter-Welt eingeführt, deren Eindimensionalität allenfalls durch die großartigen Szenen wettgemacht wird, als ausgerechnet der verhasste Professor Snape Harry Nachhilfestunden in "Occlumency" (quasi der Verteidigung gegen Gedankenlesen) gibt.

Rowlings Lust am Fabulieren hat, alles in allem besehen, beileibe nicht nachgelassen. Der fünfte Band präsentiert sich erfreulich unbeeindruckt von ihrem enormen Erfolg (und damit verbundenen Erfolgsdruck!) und ist - wie von der Autorin angekündigt - durch die Wiederkehr des Lord Voldemort insgesamt von düsterer Atmosphäre, inklusive des - ebenfalls angekündigten - Todes einer wichtigen Figur. Was durchaus als gelungene PR-Strategie gedeutet werden kann (drei Jahre lang rätselte die Fangemeinde, wer denn nun sterben muss), mag jedoch schlicht Indiz für Rowlings literarische Ernsthaftigkeit sein. Vermutlich ist beides kaum noch zu trennen. Rowling jedenfalls sagte einmal dazu: "Graham Greene hat gesagt, ein Schriftsteller habe immer ein Stück Eis in seinem Herzen. Und wenn man über das Böse schreibt und es damit ernst meint, kommt man um Todesszenen nicht herum. Es bringt nichts, zu schreiben: 'Voldemort brachte dreißig Menschen um'. Das ist einem egal. Erst wenn er jemanden umbringt, den Sie mögen, begreifen Sie, was das bedeutet. Deswegen muss die Figur dran glauben, so leid es mir tut."

Nun ja, der Showdown der guten gegen die bösen Zauberer freilich, bei dem der Tote schließlich zu beklagen ist, erinnert etwas zu sehr an die Laserschwert-Duelle von "Star Wars" (und ist filmisch sicherlich effektvoll umzusetzen). Der Tod und die Trauer Harrys sind jedoch zweifelsohne Themen, die in den zwei folgenden Bänden, wenn es zum großen Kampf der Zauberer gegen Voldemort kommen wird, noch stärker ins Zentrum rücken werden. Harry wird schließlich erwachsen.

Die Kluft zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen, ihrer Erfahrungswelt und den Schwierigkeiten ihrer Kommunikation, war neben dem Tod von Beginn an ein weiteres wichtiges Thema der Harry-Potter-Bände, das jedoch stets en passant die Handlung vorantrieb, ohne näher ausgeführt zu werden. In "Harry Potter and the Order of the Phoenix" gerät die Kommunikationsproblematik nun deutlich in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zunächst scheint sie nur in ironischen Nebenbemerkungen von Phineas Nigellus auf: "Young people are so infernally convinced that they are absolutely right about everything. Has it not occurred to you, my poor puffed-up popinjay, that there might be an excellent reason why the Headmaster of Hogwarts is not confiding every tiny detail of his plans to you? [...] No like all young people, you are quite sure that you alone feel and think, you alone recognise danger, you alone are the only one clever enough to realise what the Dark Lord may be planning".

Am Ende jedoch muss Dumbledore selbstkritisch seinen - tödlichen - Fehler einräumen: "Harry, I owe you an explanation [...] of an old man's mistakes. For I see now that what I have done, and not done, with regard to you, bears all the hallmarks of the failings of age. Youth cannot know how age thinks and feels. But old men are guilty if they forget what it was to be young ... and I seem to have forgotten, lately ..." Dumbledores Zögern, Harry die Wahrheit zu sagen und ihm seine Handlungsweisen zu erklären, führt dazu, dass der Junge prompt in Voldemorts Falle tappt. Als der 15-jährige Harry endlich von Dumbledore die bislang verschwiegenen Hintergründe darüber erfährt, warum Lord Voldemort ihn als Baby töten wollte, ist das alles vielleicht inhaltlich keine große Überraschung mehr. Jedoch: Man darf gespannt sein, wie Harry mit dem Bewusstsein um die tödliche Verstrickung weiter leben wird. In spätestens zwei bis drei Jahren, wenn Harry Potter im sechsten Schuljahr zaubern wird, so ist zu hoffen, wissen wir es.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Order of the Phoenix.
Bloomsbury Publishing, London 2003.
766 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 0747551006

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