Teutscher Kunstradfahrer geritten in allen Gangarten

Der Katalog zur Ausstellung "Grotesk!"

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alte Frauen sagen zu alten Freundinnen, die eine beschissene neue Frisur haben, nicht: "Oh, was für eine beschissene neue Frisur!", sondern: "Oh, was für eine freche neue Frisur." Rempelt man alte Männer auf dem Gehsteig an, dann brüllen diese - stockschwingend taumelnd: "Frechheit!" "Frech" und "Frechheit" sind also bejahrte, verstaubte, vetrocknete Elemente im oberen Drittel der Alterspyramide des deutschen Wortschatzes. "Grotesk" ist besser, intellektueller, griffiger, pfiffiger. Deswegen nannte man die Ausstellung "Grotesk!" auch "Grotesk!" und beschrieb sie erst im Untertitel mit "130 Jahre Kunst der Frechheit".

2003 minus 130 gibt 1873. Folgerichtig ist die erste Abbildung der thematischen Reihe Arnold Böcklins "Triton und Nereide" von 1873/74: Sie aalt sich auf einem von Gischt umspülten Felsen und streichelt eine mächtige Seeschlange. Er bläst das Muschelhorn. Böcklin lässt gerne dralle Wassergeisterinnen sich in den Ozeanen befeuchten, und immer entlocken seine Gemälde dem Betrachter ein zufriedenes Lächeln. Die Böcklinsche Mythologie ist jenseits von bierernst-akademischem Klassizismus, sie bietet vielmehr Anlass für die triebhaft-menschliche Wahrheit unter den Schuppen der Nixen und zwischen den dichten Haaren geiler Satyrbeine. Ähnlich entlarven Emil Nolde, Lovis Corinth und Franz von Stuck die Fleischlichkeit des Fin de siècle inmitten bacchanalischer Entrücktheit. Der Katalog beginnt fulminant, die Abbildungen sind großartig, und man wird mit dem Schauen gar nicht fertig und auch nicht mit dem Grinsen. Blöd ist nur, dass das sorglose Blättern in der verschmitzten Galerie immer wieder durch Texte unterbrochen wird, die entweder ernsthaft ernst gemeint sind oder - nur eventuell vielleicht, ganz sicher ist das nicht, eher ist es das nicht, aber es wäre schön, wenn es das wäre - so erheblich brutal ernst unernsthaft zu verstehen sind, dass sie es als ihre edle und ehrenhafte Aufgabe ansehen, den trockenen Witz der abgebildeten Werke zu rahmen. Meistens jedoch wird nur Lustigkeit erklärt, und da ist schon der Versuch strafbar. Die Werke brauchen keine Erklärung, sie sprechen für sich. Sie transportieren die Mordsgaudi, die die Künstler bei der Gestaltwerdung ihrer Demonstration der totalen Wahrheit hatten, denn es geht ausschließlich um die Wahrheit (die bittere, die nackte, die traurige, die aufrichtige, die versteckte, die offensichtliche, etc.) und um nichts anderes.

"Die archäologische Entdeckung der pompejanischen Wandmalerei 1493 in den labyrinthischen ,Grotten' (ital. grotte) der Domus Aurea (dem ,Goldenen Haus') des römischen Kaisers Nero (37-68 n. Chr.) löste durch die nach ihnen benannten ,Grotesken' manieristische Verfahren aus, die fortan Sonden gleich tief in die Disposition der Kulturgeschichte reichen sollten. Durch ihre Mischformen und Motivkoppelungen aus Pflanzlichem, Menschlichem, Tierischem, Mechanischem, durch Polyvalenzen und Gestaltverflechtungen sowie -verzerrungen, durch Möglichkeits- und Variationsformen eröffneten sie ambivalente Welten zwischen Virtualität und Ralität, Abgründigem und Heiterem, Mythischem und Rationalem, Unbewusstem und Bewusstem." (aus Hanne Bergius Beitrag "DADA grotesk")

"Mit ihrer Wiederentdeckung in Rom am Ende des 15. Jahrhunderts erhielt die antike Wandverzierung ihren italienischen Namen grottesche, welche dann dem kunsthistorischen Terminus ,die Grotteske' als Bezeichnung für die antiken Dekorationssysteme und ihre Rezeption und Neugestaltung seit der Renaissance führte. Sie steht im direkten Widerspruch zu allen Tendenzen, die die Kunst im Sinne Vitruvs auf die Nachahmung der Natur verpflichten wollen." (aus Gregor Wedekinds Beitrag "Die Wirklichkeit des Grotesken: Paul Klee, Hugo Ball und Carl Einstein")

Thomas Theodor Heines Plakate für "Die 11 Scharfrichter" und seine Illustrationen im oder um den "Simplicissimus" etwa zeugen von zwei außergewöhnlichen Institutionen auf außergewöhnliche Art und Weise. Heines Werke zeigen, wie Satire und bildende Kunst ganz unaufgeregt Hand in Hand gehen können, ohne Trash oder grobe Provokation, einfach wahrhaftig. Lyonel Feininger, George Grosz und John Heartfield spielen dieses Duett ebenfalls virtuos, und langsam schwillt das Crescendo, der Katalog schraubt sich in die Höhe, und dann ist er da, der (wahrscheinliche) Höhepunkt, plötzlich, auf einer Doppelseite: "Karl Valentin und Lisl Karlstadt in ihren Original-Soloscenen" steht umkränzt auf einer Tafel inmitten von 35 Fotografien. 35 Gestalten - u. a. ein Schnellzeichner, ein Militär-Musiker, der Karre mit der Zigarre, der böhmische Ladislaus, die Loreley -, immer anders, immer Wahnsinn. Valentins und Karlstadts Karikaturen zeittypischer (und teilweise zeitloser) Erscheinungen sind in ihrer Machart programmatisch für das Schaffen der im Katalog versammelten Künstler. Die das hohe Ross Reitenden, die Wichtigen, die sich über dem Volk Fühlenden werden von gnadenlosen Beobachtern vom Gaul gezerrt, und wenn sie dann im Staube liegen, dann hält man ihnen den Spiegel vor, und in den Spiegel blickt die Wahrheit.

Drittes Textbeispiel: "Im deutschen Denken war das Groteske von jeher mit dem Ornament verknüpft, eine Assoziation, die auf das 16. Jahrhundert und die italienische Renaissance zurückging. In dieser Epoche wurde das vor allem von Horaz und Vitruv geprägte klassische Verständnis des Ornaments auf die antiken Wandmalereien bezogen, die kurz vorher in Rom freigelegt worden waren. Ausgrabungen im ausgehenden 15. Jahrhundert hatten Räume in Neros Domus Aurea zu Tage gefördert, die mit ungewöhnlichen Ornamentformen aus heterogensten Elemente - pflanzliche Motive, Tier- und Menschenfiguren, Vasen, Kandelaber, Architekturelemente - ausgeschmückt waren. Für die Wanddekorationen dieser unterirdischen Räume, die man irrtümlicherweise für Grotten hielt, prägte man den Begriff grotteschi, Grotesken." (aus Frances S. Connellys Beitrag "Tiefsinnige Spielerei: Die Bildtradition des Grotesk-Komischen")

Auf alle bösen Schwächen biedermeiernder Kleinhirne zielen die Maler und Bastler in ihren Reflexionen, sie nagen an den tief verwurzelten Verführungen sämtlicher Auswürfe unbedachter Anfälle von Machtgier und gedankenloser Befriedigung der Körper aufgrund Ego- bzw. Narzissmus. Manchmal sind die Künstler aber einfach nur fies; manchmal vielleicht selbst ein wenig sensationsgeil; manchmal einfach nur verrückt.

So hangelt sich der Katalog weiter von DADA bis heute. Aus der Fülle der Abbildungen seien exemplarisch genannt: Raoul Hausmanns "Porträt einer alten Frau" von 1919, Rudolf Schlichters "Phänomen-Werke" von 1920, Hannah Höchs "Die ewigen Schuhplattler" von 1933, einige Merzbilder von Kurt Schwitters, Gerhard Rühms und Oswald Wieners "Kind und Welt"-Montagen von 1958, Sigmar Polkes "Kartoffelmaschine - Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann" von 1969, folgender Witz auf einer Zeichnung aus Günter Brus' Reihe "Selig sind, die Erfolg leiden ..." von 1982: "Herr Doktor, immer wenn ich Wasser lasse, höre ich Texte! Sie haben eine Sprechblase", Peter Sauls "Ethel Rosenberg in Electric Chair" von 1987, auf dem der Atomspionin Flammen aus den Augenhöhlen schlagen und ihr die Haare unter der Kopfelektrode versengen ...

Oh, was für eine beschissene neue Frisur!

Der Katalog "Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit" begleitet die gleichnamige Ausstellung, die - nachdem sie in Frankfurt am Main debütierte - noch bis zum 14. September im Münchner Haus der Kunst zu sehen ist.

Titelbild

Pamela Kort / Max Hollein (Hg.): Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit.
Prestel Verlag, München 2003.
303 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3791328875

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