Doppelgesicht der Natur

Der Bildband "Nuancen von Grün" und Christa Wolfs Schein-Idyllen

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sonnenblumen im Getreidefeld. Obstbäume in voller Blüte. Walderdbeeren in Großaufnahme. Vollmond über einem See. Ein blutroter Sonnenuntergang. Und immer wieder wild wuchernde Bauerngärten. Kein Zweifel: Man wird den Bildband gerne durchblättern, sich an den idyllischen Naturfotografien erfreuen und in die kurzen, harmlos scheinenden Textpassagen Christa Wolfs über Landschaft und Natur hineinlesen. "Nuancen von Grün" passt in jede gefällige Geschenkbuch-Ecke der Buchhandlungen. Doch leistet der aufwändig gestaltete Bildband wesentlich mehr, als es zunächst scheint: Mit "Nuancen von Grün" steht Christa Wolf auch zur Neuentdeckung frei.

Bereits 1976 bemerkte Adam Krzeminski in einem Interview mit der Autorin: "Die Umwelt spielt in Ihren Romanen eine große Rolle. Sie sind an eine bestimmte Landschaft gebunden. Man spürt in ihnen Sand und Kiefern von Brandenburg." Der Bedeutung von Naturschilderungen und Landschaft im Werk Christa Wolfs ist jedoch, von einem wenig aufschlussreichen Versuch Jürgen Grambows 1990 abgesehen, seltsamerweise bis heute nicht weiter nachgegangen worden. Vielleicht haben die politischen Diskussionen um die Werke der Autorin bislang den Blick auf derart "unpolitische" Details verdeckt. Das könnte nun anders werden: Das Verdienst der Textauswahl von Angela Drescher ist es, den Leser, von allen Handlungssträngen abgelöst, endlich auf diese Seite der Erzählungen aufmerksam zu machen. Denn auch das ist Christa Wolf: "Es wurde langsam hell, eine milchgraue, dunstige Dämmerung. Dann kamen die Farben. Zuerst die künstlichen: das Rot der neugedeckten Dächer an den Dorfrändern, das Gartenzaungrün, ein Plakat. Später das Pastell des Landes: das satte Dunkelgrau der Felder gegen den immer lichter werdenden blassgrauen Himmel, über den, noch stumm, Vögel schossen; das mahagonifarbene schlanke Buchengesträuch an den Straßen, und ganz zuletzt ein Anflug von Bläue über dem dunkelgezackten Waldrand, vor dem, was immer auch geschehen mochte, an einer windzerrupften Weide ein Weg rechts abbog, leicht ansteigend, dann schnell fallend in ein Dorf, das zuverlässig an seinem Platz geblieben war; das man nur durchqueren musste, um an seinem äußersten Rand in dieses kleine, unsagbar kleine Haus einzutreten und alles zu finden, was ein Mensch braucht." Nicht nur bei diesem Zitat verrät erst das Quellenverzeichnis, aus welchem Werk es stammt: "Der geteilte Himmel".

Immer wieder bilden Landschaften den Hintergrund der Bücher, stellen liebevoll skizzierte Orte, Gärten, Wiesen, Felder die Kulisse für Reflexionen dar. Die ausgewählten Passagen stammen querbeet aus den Werken, wobei, nicht überraschend, "Sommerstück", "Störfall" oder "Juninachmittag" besonders häufig zitiert werden. Aber auch "Nachdenken über Christa T." und selbst die knappe Skizze "Im Stein" (in: "Hierzulande Andernorts") erweisen sich als ergiebige Quelle. Der Monolog der troischen Seherin Kassandra hat dagegen kein Material geboten (wie auch "Was bleibt", "Kein Ort. Nirgends", "Medea. Stimmen", "Leibhaftig" und die "Moskauer Novelle" fehlen). Aber auch hier schwingt das Thema untergründig mit. So betonte Christa Wolf in einem Gespräch mit Jaqueline Grenz: "Es war die Luft, es war der Himmel, es waren die Steine, die auch ihre [Kassandras; H. P.] Landschaft bildeten." Und über die "Voraussetzungen einer Erzählung" findet sich "Kassandra" schließlich auch in "Nuancen von Grün" wieder.

Wolfs bewusste Darstellung menschlichen Lebens in der Natur begann nach eigenen Angaben "erst mit jenem Juninachmittag, an dem der Alltag einer Familie in einen Tagesablauf im Garten eingebunden wurde. Seitdem sind meine Naturschilderungen mit dem mir so wichtigen Alltagsleben verknüpft, richtiger: Das eine ist mit dem anderen untrennbar verbunden." Und richtig, im Bildband ist sie gesammelt, jene weibliche "Poetik des Alltags", für die die Autorin, besonders von männlichen Kritikern, oft milde belächelt wird. Nicht nur die Weite von saftgrünen zarten Feldern oder der stimmungsvolle Nebel über einem Flusstal wird in den Landschaftsbeschreibungen Wolfs geschildert. Die Autorin liebt es konkreter, zupackender, ist doch das Leben eine Folge von gewöhnlichen Tagen, mit all seinen kleinen, banalen Handgriffen. "Frühstücken. Den Kaffee mit dem orangefarbenen Messlöffel in den Filter messen, die Kaffeemaschine anstellen, den Duft genießen, der sich in der Küche entfaltet. [...] Die haltbaren Genüsse. Das Gerüst, welches das Leben auch über tote Zeiten trägt. Die Schnittfläche des dunklen mecklenburgischen Brotes. Angeschnittene Roggenkörner. [...] Das riesige Getreidefeld hinter unserem Haus [...] in seinem satten Grün." Da werden Pflaumen entsteint und der Garten umgeharkt. "Für Gemüseanbau ist unser Boden allemal zu schwer. Lehmerde, hart, steinhart, nach drei regenlosen Tagen, kaum zu bearbeiten. Ich habe es trotzdem versucht, den Boden mit Hacke und Harke zu zerkleinern, Beete anzulegen, in die ich mit dem Pflanzholz Rillen ziehen könnte, nicht zu tief und nicht zu flach, um in sie den braunen runden Sauerampfersamen für die Sauerampfersuppen, den winzigkleinen spitzen Schnittsalatsamen und die Spinatsaat auszustreuen, alles sehr sorgfältig und zornig, was ich daran gemerkt habe, dass ich meine Tätigkeiten mit halblautem Schimpfen begleitet habe [...]". Die minutiöse Beschreibung von alltäglichen Vorgängen ist charakteristisch für diese Poetik. Sie ist dabei, nicht nur in dieser oberflächlich recht unbedeutend wirkenden Textpassage, keineswegs unpolitisch - stammt doch das Zitat aus "Störfall", jener Verarbeitung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. "In diesen scheinbar literaturunwürdigen Textstellen hält Wolf die Augenblicke des Tages fest, die der Hoffnungslosigkeit der selbstzerstörenden Welt, die sie umgibt, trotzen", hat Katharina von Ankum dazu ausgeführt. Wolfs Schreibweise, die sich den Dingen und damit dem Leben zuwendet, trifft sich mit den Überlegungen der französischen Poststrukturalistin Hélène Cixous: "Indem wir das Ding uns an etwas erinnern lassen, lernen wir, nicht mehr zu vergessen, das Vergessen aufzulösen, das Andere zu erinnern, das man das Leben nennen kann. So ist die poetische Praxis eine politische Praxis."

Christa Wolf selbst begründet ihre Zuwendung zur Natur wie folgt: "Natur schützt, wenn man will, vor dem Sich-Verlieren in Abstraktion, vor reiner Gedankenakrobatik; im wahren Sinn des Wortes: vor dem Verlust des Bodens unter den Füßen." Nicht nur die Zitate aus "Störfall" beinhalten dabei zivilisationskritische Töne. Illusionen vom Landleben macht sich Christa Wolf wahrlich nicht. Den Hinweis auf die industrielle Viehproduktion, den Lärm der Erntemaschinen, Massentierhaltung und Herbizide hätte es im Nachwort für aufmerksame Leser gar nicht bedurft. Jumbo-Jets finden sich schließlich ebenso am Wolfschen Himmel wie Wolkenlandschaften oder der Zug von Wildgänsen. Disharmonien sind in die Texte eingeschrieben, auch auf knappstem Raum; Alter, Krankheit, Unfall, Tod scheinen als thematische Komplexe unvermittelt auf. Gerade in Kombination mit den Fotografien erweist sich die Dekontextualisierung der Textpassagen allerdings als problematisch. Die Diskrepanz besteht gelegentlich nur in kleinen Details, wenn Text und Bild unterschiedliche Szenerien vor Augen führen. Grundsätzlich jedoch werden die durchweg gefälligen, die Schönheit der Natur betonenden Fotografien des Bandes dem kritisch-reflexiven Bewusstsein der Autorin nur bedingt gerecht. Denn in ihren Werken zeigt Christa Wolf auch stets das Doppelgesicht der Natur, hinter deren Schönheit immer auch Grausamkeit, Tod und Verfall verborgen liegen. So wird den Lesern, anders als in "Nuancen von Grün", in "Sommerstück" auch die unappetitliche Beschreibung eines halbtoten, zappelnden, von Würmern angefressenen Maulwurfs zugemutet.

Als ob Christa Wolf angesichts des allzu malerischen Bildbandes selbst Unbehagen verspürt hat, distanziert sie sich in ihrem Nachwort vorsorglich und engagiert von jedem Anschein naiver Naturidyllen - und damit wohl auch von den allzu harmonischen Fotografien. Ihre Hinweise auf den Entfremdungsprozess der Moderne oder die NS-Verbrechen des 20. Jahrhunderts, da ein "Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen" wird, wären womöglich überflüssig gewesen, wäre der Verlag bei der Auswahl der Bilder mutiger gewesen. Mit einigen Fotos, die die naturreine, menschenlose Beschaulichkeit bildlich brechen (und eine einsame Bahnlinie genügt hier bei weitem nicht), hätte "Nuancen von Grün" vielleicht nicht mehr perfekt in die Geschenkbuch-Ecke und auf den Vorweihnachts-Büchertisch gepasst. Christa Wolf jedoch hätte der Band dann besser entsprochen.

Denn ihre Naturbeschreibungen sind mehr als eine Marginalie ihres Werkes. Wolfs Landschaften spiegeln die Menschen, die darin leben. In "Nachdenken über Christa T." heißt es hierzu: "Aber so unwichtig sind die Orte nicht, an denen wir leben. Sie bleiben ja nicht nur Rahmen für unsere Auftritte, sie mischen sich ein, sie verändern die Szene, und nicht selten ist, wenn wir ,Verhältnisse' sagen, einfach irgendein bestimmter Ort gemeint, der sich nichts aus uns macht."

Titelbild

Christa Wolf: Nuancen von Grün. Ausgewählte Texte zu Landschaft und Natur.
Aufbau Verlag, Berlin 2002.
160 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3351029551

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