Der Mittelpunkt der Welt

Meike G. Werner über kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jenas

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich ist jeder sich selbst der Mittelpunkt seiner eigenen Welt, wie klein oder groß, wie belanglos oder bedeutend auch immer sie sein mag. Da verwundert es wenig, wenn jemandem seine zwar in der Provinz gelegene, aber doch sehr geliebte Heimatstadt als Mittelpunkt der Welt schlechthin erscheint. So war auch der Begründer des in Jena ansässigen Diederichs Verlags der Auffassung, gerade diese Stadt bilde den besagten Mittelpunkt. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts - und dem damals noch von keinem kulturkritischen Relativismus getrübtem Eurozentrismus gemäß fiel Diederichs Begründung folgendermaßen aus: Europa sei der "Mittelpunkt der Weltteile", in seiner Mitte wiederum befinde sich Deutschland und zu guter letzt liege Jena überhaupt "in der Mitte von Ost und West, von Nord und Süd".

Dies ist Meike G. Werner zufolge eine "nur halb scherzhaft" gemeinte Bemerkung, hinter der sie ein "ernstzunehmendes Konzept" vermutet, denn Jena sei zur Zeit der Jahrhundertwende ein "Symbol der Moderne in der Provinz" gewesen.

In ihrer Studie über "kulturelle Experimente" im Jena des Fin de Siècle, welche die Autorin als Beitrag zu den "Cultural Studies" verstanden wissen will, vertritt sie die These, dass die "kleine Provinz- und Universitätsstadt mit ruhmreicher klassisch-romantischer Vergangenheit" den von den Großstädten ausgehenden Modernisierungsprozess nicht nur "miterlitt", sondern ihn "aktiv und mit intellektuellem Führungsanspruch" mitgestaltete. Die Autorin widerspricht also der Auffassung, welche die Großstadt als "locus classicus der Modernität schlechthin" betrachtet, in der Provinz hingegen eine "Chiffre der Reaktion schlechthin" sieht. Denn nachdem sich seit einem guten Dezennium in verschiedenen europäischen Metropolen - im deutschsprachigen Raum insbesondere in Berlin, München und Wien - zahlreiche künstlerische Stile und Weltanschauungen entwickelt hatten, die sich sämtlich der Moderne zurechneten, einander jedoch emphatisch bekämpften, sei um 1900 auch die Provinz von einer "kreative[n] Unruhe" erfasst worden. Diese Unruhe habe sich nicht im Widerspruch zum großstädtischen Modernisierungsprozess befunden, sondern sei vielmehr eine "transformierende Alternative" zu dem gewesen, "was bis dahin mit großstädtischer Moderne konnotiert war". Drei Aspekte des kulturellen Lebens im "Brennspiegel Jena" führt sie hierfür als Belege an: Zum einen das Wirken Eugen Diedrichs und seines 1896 gründeten Verlags, mit dem er 1904 in Jena ansässig wurde, sodann das literarischen Schaffen von Diederichs Frau Helene Voigt-Diederichs und schließlich den freistudentischen Serakreis, dessen "spiritus rector" und "Choreograph" der umtriebige Eugen Diederichs war.

Die Trias wird von der Autorin mit ebenfalls drei zentralen Themen der Moderne verknüpft: Das auch unter Jenaer Intellektuellen kontrovers diskutierte "Problem der Kultur", die durch die Frauenbewegung entfachte Debatte um die Emanzipation der Frau und den sich zum einem bis dato unbekannten Jugendkult entwickelnden "Aufbruch der Jugend".

Der erste und umfangreichste Abschnitt des vorliegenden Buches gilt Eugen Diederichs und seinem Verlag, den er in einem Brief an Avenarius als "Versammlungsort moderner Geister" bezeichnete und dem er im "Börsenblatt" "[m]oderne Bestrebungen auf dem Gebiet der Litteratur, Sozialwissenschaft, Naturwissenschaft und Theosophie" bescheinigte. Diederichs war nicht nur ebenso wie viele Intellektuelle seiner Zeit ein "eifrige[r] Nietzsche-Leser", sondern pflegte darüber hinaus eine freundschaftliche Korrespondenz mit dessen Schwester Elisabeth Nietzsche-Förster. Nachdem Diederichs 1905 jedoch Publikationen von Dissidenten des von ihr geleiteten Nietzsche-Archivs ins Verlagsprogramm aufgenommen hatte, um die - wie Werner zurückhaltend schreibt - "fragwürdigen Editionspraktiken" des Archivs einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen, geriet er in einen anhaltenden Streit mit der Verwalterin des Nietzschenachlasses. Dies führte dazu, dass auch Diederichs vom Bannfluch der im nahegelegenen Weimar residierenden "Oberpriesterin" des Nietzsche-Kults getroffen wurde. Obwohl das "akademischen Establishment" Jenas 'Zarathustras Schwester' nahezu geschlossen huldigte, kann Diederichs Zerwürfnis mit ihr kaum die alleinige Ursache dafür gewesen sein, dass es ihm trotz aller Umtriebigkeit und allen Engagements niemals gelang, von diesen Kreisen wirklich anerkannt zu werden. Auch seine "Gelehrtenschelte" und seine "Distanz zur Ästhetik der Weimarer Avantgarde" dürften für die Vergeblichkeit seines Integrationsversuchs zwar eine gewisse Rolle gespielt haben, letztlich jedoch nicht ausschlaggebend gewesen sein. Den eigentlichen Grund macht Werner vielmehr in zwei "Affäre[n]" aus, die Diederichs' Frau Helene mit Max Scheler und Erich Kuithan hatte, und die unter anderem dazu führte, dass Scheler die Stadt verlassen musste. Noch 1908, immerhin drei Jahre nach einem "öffentlichen Zusammenstoß" Helene Voigt-Diederichs mit Schelers Frau Amély, teilte etwa Irene Eucken ihrer Mutter brieflich mit, dass sie und ihr Mann seit dem damaligen Vorfall "keine gesellschaftlichen Beziehungen" zur Familie Diederichs mehr unterhielten: "Gelind ausgedrückt", so schreibt sie, "sind uns die Leute zu geschmacklos, als daß wir mit ihnen etwas zu tun haben möchten". Zumindest im Umgang mit 'ehebrechenden' Frauen weist die Jenenser Moderne also einen eklatanten Unterschied zur großstädtischen auf; ging es doch nicht nur in Wahnmoching ganz anders zu. Diederichs versuchte im übrigen seine Frau auf den Pfad der Tugend und somit zu sich selbst zurückzuführen, in dem er - wie er Ellen Key schrieb - die "Nietzschepeitsche" schwang. Mit wenig Erfolg, wie man sich leicht vorstellen kann. 1911 verließ Helene Voigt-Diedrichs ihn und die Stadt endgültig.

Mit ihr wandte nicht nur eine Frau der Stadt den Rücken, die sich, wie Werner ohne Übertreibung schreibt, durchaus "nicht widerspruchslos" den "Rollenerwartungen" fügte, "die auch im liberalen Jena und von einem aufgeschlossenen Verleger an eine junge Frau, Mutter und Verlegergattin gestellt wurden", sondern eine Autorin, die von Werner zu Recht in Beziehung zur literarischen "Los von Berlin"-Bewegung gesetzt wird. Ebenso wie Clara Viebig und zahlreiche männliche Autoren der Bewegung zog auch Voigt-Diedrichs gegen Naturalismus und die als dekadent verschrieene "Großstadtliteratur" zu Felde und stand für eine "deutschvölkische, regional untergliederte Literatur" ein, die von konservativer Seite als "'nationale Erweckungsbewegung" begrüßt wurde, während sie kritische Stimmen nicht nur der "'Reaktion im schlimmsten Sinne des Wortes" ziehen, sondern zudem monierten, dass sie die "moderne Komplexität und Differenzierung" auf "volkliche Traditionen" reduziere. Werner bescheinigt Voigt-Diederichs Werk, "bestenfalls zweitklassische Literatur" zu sein, in der ein Frauenbild propagiert werde, das so gar nicht dem um sexuelle Selbstbestimmung ringenden - und somit in gewisser Weise modernen - Leben passen will, das Voigt-Diederichs in Jena führte. Obwohl sie wie Ibsens Nora Mann und Kinder in einem emanzipatorischen Schritt verlassen hat, blieb ihr literarisches Schaffen "in den internalisierten selbstbegrenzenden Weiblichkeitsbildern ihrer Zeit befangen" und wies den Frauen ihren "angestammten Platz der (Ersatz-)Mutter und Ehe- und Hausfrau" zu.

Eine Literatur also, die den Ehrentitel "modern" kaum verdienen dürfte. Weder zeigt sich in ihr eine alternative Moderne noch eine Alternative zur Moderne. Vielmehr handelt es sich zweifellos um Literatur, die ganz und gar hinter der Moderne zurückgeblieben ist.

Titelbild

Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siecle-Jena.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
367 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 389244594X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch