Wach ich oder träum ich?

Natasza Goerke lässt nicht nur ihren Antihelden rasant erstarren

Von Nadine WeigelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Weigel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da." Das Motto von Augusto Monteroso, der Erzählung vorangestellt, ist symptomatisch für Natasza Goerkes Erzählung "Rasante Erstarrung". Scheint doch das Leben ihres Antihelden, dessen Namen man nie erfährt, ein nie enden wollender Alptraum zu sein, die Konfrontation mit der fundamentalen Angst eines jeden Träumers, nicht mehr unterscheiden zu können, ob man wach ist oder noch träumt.

"Die Realität verschwimmt mit Traum und Phantasie zu einem unentwirrbaren, surrealen Labyrinth", wie es im Klappentext so schön heißt. Tatsächlich wird dem Leser auch nach wiederholter Lektüre nicht klar, was Traum und was Realität ist.

Die 1960 in Warschau geborene Polin Natasza Goerke ist mit ihrer dritten auf Deutsch erschienen Erzählung nach "Sibirische Palme" und "Abschied vom Plasma" erneut auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ihr namenloser Protagonist irrt durch seine Existenz, ohne voranzukommen, lebt, ohne je gelebt zu haben.

Als 47-jähriger arbeitsloser Single verliert er sich in skurrilen Reflexionen über sein eigenes Leben und gleitet dabei langsam in den Wahnsinn ab. Sein Leben ist geprägt von seinem ambivalenten Verhältnis zu Frauen. Beteuert er auf der einen Seite doch immer wieder, so oft schon aus verzweifelter Liebe wie ein "Krebs durch die Existenz" der Frauen gekrochen zu sein. Auf der anderen Seite jedoch gibt er zu verstehen, dass er noch nie eine Frau richtig geliebt habe. Goerke verleiht ihrem erbarmungswürdigen Helden ein schizophrenes Gesicht. Was soll man glauben, was nicht? Es bleibt offen wie eigentlich alles.

Die Autorin webt stattdessen geschickt ein Netz aus Erinnerungen, Realität und Halluzinationen des Protagonisten, durch dessen Löcher der Leser fällt, immer wenn er meint, den Sinn erkannt zu haben. Doch die Faszination der Erzählungen geht weniger vom Inhalt als vielmehr von der Form aus, das Buch ist durch einen humorvollen, grotesken Stil geprägt. Bleibt die Handlung auch verwirrend, gelingt es der in Hamburg lebenden Schriftstellerin mit ihrer detaillierten Beschreibung ihrer absurden Figuren, den Leser in ihren Bann zu ziehen.

Der Gaul zum Beispiel, ein Freund des Antihelden, der als Sänger der Gruppe Metrisches Muschelrauschen seine jeglichen Sinn entbehrenden Texte in die Welt hinaus schreit und von einer 62-Jährigen von seiner Pädophilie befreit wird.

Wie Geistererscheinungen wirken die Begegnungen mit Frauen: Wolga Nix, die die "gesamte Ödnis des Universums verkörpert", die jugendliche Maya, deren dressierte Taube Fremden in Bierdosen kackt, die geheimnisvolle Brünette, deren Haargel noch in seinem Kühlschrank wie ein Relikt aus glücklichen Tagen lagert und die er in einer anderen Brünetten in einem nie da gewesenen Laden wieder zu erkennen scheint, sich vor ihr auf die Knie wirft und ihre Schuhe küsst. Ebenso die mysteriöse Blonde mit den langen Zöpfen, die in seiner Phantasie plötzlich in der Wohnung auftaucht, vorgibt, mit ihm verheiratet zu sein und ein Kind mit dem sinnlosen Namen Finimondo zu haben.

Dominierend bleibt aber der tatenlose Held, der sich in den Wirren seiner Untätigkeit verliert. Hält er sich selbst für einen ausgesprochen gebildeten und kultivierten Menschen, ist seine gesamte Existenz doch durch kontinuierliches Versagen geprägt.

Keinen Job behält er länger als eine Woche, er übt sich in der Schriftstellerei, ohne auch nur an Publikation zu denken und er trinkt Bier ohne Pause - was vielleicht ein Grund für die Realitätsflucht ist - obwohl ihm seine Nieren ständig zu schaffen machen. Noch hat der "47-jährige Greis mit Blasenschwäche" jemals seine Stadt verlassen, die er zwar über alles liebt, die seine Liebe aber nie erwiderte. Ein Versager auf ganzer Linie also, der langsam die Grenze zwischen Traum und Wahnsinn überschreitet, ohne es aktiv verhindern zu wollen.

Natasza Goerke nimmt den Leser mit auf eine Reise in ein tragikomisches Leben, das man selbst nie leben möchte. Sie konfrontiert den Leser durch ihre schonungslose Sprache mit eigenen Versagensängsten und der Frage nach dem Sinn des Liebens und Lebens. Immer in rasanter Bewegung springt die Autorin vom Hundertsten ins Tausendste und lässt dadurch nicht nur ihren Antihelden erstarren.

Anfängliches Schmunzeln über die grotesken Charaktere und wahnwitzigen Begebenheiten weichen bald einem tiefen Nachdenken. So bleibt dem Leser nach dem letzten Satz, bei dem man die Hoffnung auf Katharsis komplett verliert "die Sonne verlosch und alles war klar" nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Buch mit resigniertem Kopfschütteln ins Regal zu stellen oder sinnierend einzuschlafen und zu hoffen, dass der Dinosaurier beim Aufwachen verschwunden ist.

Titelbild

Natasza Goerke: Rasante Erstarrung. Erzählung.
Übersetzt aus dem Polnischen von Marlis Lami.
Skarabaeus Verlag, Innsbruck 2003.
90 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3708231236

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