Alfred Döblin und das Judentum

Aus Anlass seines 125. Geburtstages

Von Klaus Müller-SalgetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Müller-Salget

Die Beziehung zwischen Alfred Döblin und dem Judentum scheint heillos. Dass er, der sich von 1933 bis 1937 für den Neoterritorialismus, die so genannte Freiland-Bewegung, engagiert hatte, der die Fluchtmöglichkeit in die USA und seinen dortigen Lebensunterhalt weitgehend jüdischen Hilfsorganisationen verdankte, im November 1941 zum Katholizismus konvertiert ist, hat man weithin als Verrat empfunden. Schalom Ben-Chorin z.B. reagierte am 1.7.1949 mit dem Artikel "Abschied von Alfred Döblin" (in: Hakidmah, Jerusalem). Obendrein geistert seit der verheerenden Döblin-Monographie von Klaus Schröter, die 1978 ausgerechnet zum 100. Geburtstag des Autors bei Rowohlt erschienen ist, die Fama durch die Forschung, Döblin sei zumindest zeitweise Rassist, ja Antisemit gewesen. Diese Legende, die Winfried Georg Sebald unbesehen in sein auch sonst wenig informiertes Buch "Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins" (Stuttgart 1980) übernommen hat, beruht auf Zitatverfälschungen und anderen Manipulationen, die ich bereits 1984 in einem Forschungsbericht aufgedeckt habe (Neuere Tendenzen in der Döblin-Forschung. ZfdPh 108, 1984, S. 263-277). Schröter freilich lässt sich dadurch nicht hindern, seine falschen Behauptungen von Auflage zu Auflage der Monographie weiterzuverbreiten. Sein und auch Sebalds Affekt speist sich ebenfalls aus dem Vorwurf, Döblin sei ein Renegat; ihnen geht es allerdings nicht um das Judentum, sondern um den Sozialismus.

Angesichts dieser weitgehend emotional und ideologisch bestimmten Debatte scheint es hilfreich, einen nüchternen Blick auf die Fakten zu werfen. Vorab verweise ich auf schon vorliegende Arbeiten zum Thema: Da ist zunächst der von Informationen überquellende Aufsatz von Louis Huguet "Alfred Doblin et le judaïsme", der 1976 leider an ganz entlegener Stelle veröffentlicht worden ist, in den "Annales de 1' Université d'Abidjan", Elfenbeinküste (Serie D, tome IX, p. 47-115). Eher paraphrasierend als analysierend verfuhr 1981 Klara Pomeranz Carmely im Döblin-Kapitel ihres Buches "Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler" (Königstein/Ts 1981, S. 101-114). Vor allem auf jüdische Erzähl-Motive und jüdische Erzählformen konzentrierte sich Hans-Peter Bayerdörfer 1985 in seinem Beitrag ",Ghettokunst'. ,Meinetwegen, aber hundertprozentig echt.' Alfred Döblins Begegnung mit dem Ostjudentum" zu dem Sammelband "Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhunderts" (Königstein/Ts. 1985, S. 161-177). - Auf diese Arbeiten sei ausdrücklich verwiesen, denn ich beschränke mich im Rahmen meines Aufsatzes auf ein Nachzeichnen der Grundlinien und richte das Hauptaugenmerk auf Döblins Verhalten ab 1933.

Die Eltern des Autors stammten aus der preußischen Provinz Posen, hatten sich in Stettin angesiedelt und waren der jüdischen Religion nur noch oberflächlich verbunden (so genannte 'Dreitagejuden'). 1912 heiratete Döblin eine Frau aus noch stärker assimilierter Familie, er ließ seinen ersten Sohn protestantisch taufen und trat selbst aus dem Judentum aus (Briefe. S. 259). Wie sehr ihn der Antisemitismus, der ihm von Kindheit an entgegengetreten war (Schriften zu Leben und Werk. S. 63f.), allgemeiner: die Lage der in die Zerstreuung verbannten Judenheit weiter beschäftigten, zeigen auf je eigene Weise die Romane "Die drei Sprünge des Wang-lun" (1916) und "Wallenstein" (1920), insbesondere im Motiv der Verfolgung, Vertreibung ja Tötung Andersgläubiger (vgl. Huguet, S. 56-62).

Direkt hat Döblin sich zum Antisemitismus erstmals 1920 geäußert, und zwar in einer der mit ,Linke Poot' unterzeichneten Glossen für Samuel Fischers "Neue Rundschau" (Revue, in: Die Neue Rundschau 31, 1920, Bd. I, S. 261-270; jetzt in: A. D.: Der deutsche Maskenball. S. 74-84). Dort hatte er nur Spott übrig für diese (wie er sagte) "kulturhistorische Dämonopathie", die er mit Gespensterfurcht und Hexenglauben auf eine Stufe stellte. Die oft beklagte jüdische Superiorität in Ökonomie und Intellekt wertete er als "Druck- und Verdrängungssymptom", das mit der Aufhebung des Drucks von selbst verschwinden werde. Rassentheorien erteilte er hier wie später eine Absage, denn natürliche und soziale Umweltbedingungen schienen ihm weitaus prägender als "das sogenannte Blut".

Auf den gleichen, bewusst leichtgewichtigen Ton ist der aphoristische Aufsatz Zion und Europa gestimmt, der 1921 im "Neuen Merkur" erschien (jetzt in: Kleine Schriften I. S. 313-319). Vom Standpunkt des Assimilanten aus wertete Döblin den westeuropäischen Zionismus als "eine Form jüdischer Verärgerung und Nervosität" ab; für die osteuropäische Judenheit schien ihm das Selbstbestimmungsrecht der Völker völlig ausreichend. Anzustreben sei nicht die Rückkehr nach Palästina, sondern staatliche Autonomie im Osten, z. B. in Galizien. Den Antisemitismus verhöhnte er als Schwachsinn der Ober- und Mittelschichten; "in der Praxis, unter den Realien" gebe es gar keinen Antisemitismus.

Zwei Jahre später wurde Döblin eines Schlechteren belehrt. Da kam es im Berliner Scheunenviertel, wo die eingewanderten Ostjuden sich konzentrierten, zu progromartigen Ausschreitungen, und Döblin erwachte aus seiner forcierten Indolenz (vgl. seinen Bericht: Während der Schlacht singen die Musen. In: Prager Tagblatt, 11.11.1923; jetzt in: Griffe ins Leben. S. 220-223.) Er folgte der Einladung zu zionistischen Veranstaltungen, nicht aber dem Angebot, Palästina zu besuchen, denn Palästina blieb ihm ein vor allem ideologisch besetztes Ziel, passend nur für rückwärtsgewandte, altreligiös gebundene Juden, im übrigen zu klein für die Rettung des gesamten Galut-Judentums. In einem auf März 1924 zu datierenden Vortrags-Konzept mit dem Titel "Zionismus und westliche Kultur" hielt er fest: "Das Ideal: eine jüdische Ostrepublik" (vgl. den Abdruck in: Alfred Döblin 1878/1978, S.360). Dieses Beharren auf der Autonomisierung der Ostjuden dort, wo sie bereits ansässig waren, hat zu tun mit Döblins eigener Herkunft aus diesem Raum. Dieser Herkunft nachzuspüren und sich endlich einmal kundig zu machen über Wesen und Existenzweise der Ostjuden, wurde ihm zum Bedürfnis. Finanziert vom S. Fischer-Verlag und von der "Vossischen Zeitung", die fortlaufend seine Reiseberichte abdruckte, hielt er sich von Ende September bis Ende November 1924 in Polen auf. Diese Reise ist für ihn in vieler Hinsicht folgenreich gewesen, auf philosophischem, religiösem, romantheoretischem wie romanpraktischem Gebiet, und eben auch bezüglich seiner Einschätzung des Judentums. Dass die Juden ein Volk seien, ist ihm erst hier voll bewusst geworden. Hans-Peter Bayerdörfer hat ausführlich dargetan, wie das aus den Einzelberichten erwachsene Buch "Reise in Polen" Döblins Erkenntnisweg vom Registrieren verwirrender Vielfalt in ein dialogisches Verstehen nachzeichnet, kulminierend im Gespräch mit dem Rabbi der Strickower Chassiden, das er als "vollkommenes Labsal" empfunden hat (Reise in Polen. S. 330). Aus der Erfahrung, dass das so vielfältig gedemütigte polnische Volk nun doch endlich wieder in einem eigenen Staat lebte, zog Döblin einen hoffnungsvollen Schluss für das jüdische Volk: Die Polen "sitzen in ihren eigenen Häusern. Den Juden kann es nicht entgehen." (Reise in Polen, S. 99).

Seine Ansicht, dass es vor allem aber um eine innere Erneuerung des Judentums gehe, um eine Erhebung aus der demütigenden Exilexistenz und dem, wie er meinte, schrecklichen und hoffnungslosen Messiasglauben, artikulierte sich dann im VII. Buch der Schrift "Unser Dasein", die zwar erst im April 1933 erschien - und umgehend verbrannt wurde -, an der er aber schon seit 1927 gearbeitet hatte. Dass Juden, jüdische Überlieferung, jüdische Erzählweise auch in seinem berühmtesten Roman, "Berlin Alexanderplatz" (1929), eine große Rolle spielen, kann hier nur am Rande erwähnt werden.

Im VII. Buch von "Unser Dasein" mit dem Titel "Wie lange noch, jüdisches Volk - Nichtvolk?" plädiert Döblin für eine Hinwendung der Juden zum vollen Leben, und das heißt auch: zu eigenem Land und eigener Verantwortung. Die Bedrohung der Juden fasst er in prophetische Sätze - die angesichts des schon vor 1933 stark anwachsenden Antisemitismus in Deutschland freilich keiner besonderen Sehergabe bedurften:

"Aus der Geschichte müssen die Juden wissen, daß keine Leistung, keine Willfährigkeit und Ergebenheit schützt, sondern nur Kräfte, Macht und ihre kluge Anwendung."

"Von Zeit zu Zeit treten Massenbewegungen auf, die auf ihre direkte Vertreibung oder Ausrottung ausgehen [...]; es ist in allen Ländern nur ein kleiner Schritt von der Papierstaatsbürgerschaft zum Pogrom oder neuen Ghetto."

"Glaube sich keiner, keiner, der Jude ist, irgendwo seines Bürgerrechts oder auch seines Lebens sicher." (Unser Dasein. S. 385, 389, 399, 400)

Angesichts dieser starken (und berechtigten) Warnungen erscheint der konkrete Vorschlag, eine jüdische Weltzentrale zu bilden und nicht allzu früh nach einem Staat zu rufen, als vergleichsweise matt. Man muss aber sehen, dass es Döblin vor allem um eine Bewusstseinsänderung zu tun war, konkret: um eine Erneuerung der jüdischen Religion im Rückgang auf den ursprünglichen starken Gottesglauben und um die Erkenntnis einer Verpflichtung der Menschen zu vollem, aktivem Dasein. Im Grunde handelt es sich um eine spezielle Ausformung von Döblins damaliger philosophischer Konzeption des Menschen als 'Stück und Gegenstück der Natur': als scheinbar belangloses Partikelchen im Weltganzen und gleichzeitig als erkennendes und eingreifendes Kraftzentrum (vergl Verf.: "Alfred Döblin. Werk und Entwicklung". 2. Aufl., Bonn 1988, S. 241-247). Dementsprechend heißt es denn auch am Schluss des VII. Buches von "Unser Dasein": "Die Religion, von der hier geredet wurde, ist keine Religion der 'Juden', sondern der Menschen." (S. 413) Deutlich wird hier (wie auch später), dass Döblin den Juden eine exemplarische historische Rolle zugedacht hatte: Sie sollten mit ihrer 'neuen Religion' und mit einer Volkwerdung ohne Nationalismus den abendländischen Völkern ein Beispiel geben. Döblins Enttäuschung über die tatsächliche Entwicklung nach 1933 ist hier schon abzusehen.

Wie immer man die bislang vorgestellten Gedankengänge beurteilen mag: Es dürfte klar geworden sein, dass Döblin sich keineswegs, wie Sebald gehässig behauptet, erst im Exil "mit den Fragen einer jüdischen Politik [...] beschäftigt" (S. 38) und der Assimilation eine Absage erteilt hat. Wohl aber erfuhren seine Vorstellungen im Exil eine wesentliche Konkretisierung. Noch in Berlin hatte er den Roman "Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall" zu schreiben begonnen, den er später als Vorahnung des Exils empfunden hat. Dass der Fluch des Propheten Jeremias den schuldbeladenen babylonischen Gott Marduk zu seiner mühseligen Erdenfahrt und schließlich zur Buße zwingt, kann aber auch als eine vorweggenommene Rachephantasie des Juden Döblin gelesen werden.

Ebenfalls noch in Berlin hatte er Kontakt zu Vertretern des Neoterritorialismus gefunden. Dieser Versuch einer Wiederbelebung der 1926 aufgelösten territorialistischen Bewegung zielte auf die Schaffung von Siedlungsräumen für die bedrohten europäischen Juden. Vom Zionismus unterschied der Territorialismus sich einerseits in der Ausrichtung auf andere Gebiete als Palästina (Angola, Uganda, auch Peru waren im Gespräch), zum anderen in der Absicht, nicht das Neuhebräische zur allgemeinen Sprache zu machen, sondern das Jiddische, weshalb die Territorialisten auch Jiddischisten genannt wurden. Unter diesem Namen erwähnt Döblin sie schon in Unser Dasein mit Sympathie, denn ihm schien diese Bewegung liberaler, offener und universaler als der Zionismus (vgl. auch Huguet, S. 83). In Zürich, seinem ersten Exil, hatte er außerdem Vertreter der O.R.T. kennengelernt, einer 1880 in St. Petersburg gegründeten "Gesellschaft zur Förderung des Handwerks, der Industrie und der Landwirtschaft unter den Juden" (Lexikon des Judentums, Sp. 606), die ebenfalls außereuropäische Siedlungsräume zu erwerben suchte. (Der ursprünglich russische Name der Gesellschaft wurde dann ins Englische übertragen als "Organization for Rehabilitation through Training"). Der O.R.T. ist später das berufliche Fortkommen bzw. das Überleben von Döblins Söhnen Peter und Klaus zu danken gewesen. Döblin selbst hat sich sowohl hier als auch bei den Territorialisten bis 1937 stark engagiert.

Zunächst arbeitete er das VII. Buch von "Unser Dasein" um, fügte vor allem ein Kapitel "Jüdische Massensiedlungen und Volksminoritäten" hinzu, das im September 1933 in der ersten Nummer von Klaus Manns Zeitschrift "Die Sammlung" vorabgedruckt wurde. Das Ganze erschien dann einen Monat später unter dem Titel "Jüdische Erneuerung" bei Querido in Amsterdam. Angesichts der Machtübergabe an die Nazis in Deutschland konnte die Idee der Schaffung einer jüdischen Weltzentrale nicht mehr genügen; nun forderte Döblin die "Gewinnung des Minoritätenrechtes für die Juden" und die "Vorbereitung der großen außereuropäischen Massensiedlungen", die in der Lage sein sollten, "das Gros der gesamten Judenheit" aufzunehmen (Jüdische Erneuerung. Amsterdam 1933. S. 68, 71 und 72). An seinen Vorbehalten gegen den Zionismus hielt er fest, nannte Angola, Peru, Australien als mögliche Siedlungsräume und meinte: "Es wird, gerade um den Nationalismen zu entgehen, gut sein, sich mehreren Territorien zuzuwenden." (Ebd., S. 73)

Zwei Jahre später, in der Schrift "Flucht und Sammlung des Judenvolks" (Amsterdam 1935), war eine deutliche Annäherung an den Zionismus zu verzeichnen. Die Vorbehalte gegen einen jüdischen Nationalstaat nahm Döblin nun zurück, denn "ein Ding, welches für Staaten von heute 'reaktionär' ist", könne "für die flüchtigen jüdischen Massen 'progressiv' sein" (ebd. S. 126). Auch die Zentrierung auf Palästina erkannte er jetzt als überlegen an, bezeichnete die frühere Diskussion über Uganda statt Palästina als "auf dem Hintergrund der jüdischen Geschichte kindlich" (ebd. S. 130), beklagte allerdings weiterhin die, wie er sagte, zugleich elitären wie provinziellen Verengungen der zionistischen Idee in der Praxis (ebd. S. 132).

In der Zwischenzeit hatte er eine umfangreiche Vortrags- und Organisationstätigkeit entfaltet. Im November 1933 gehörte er zu den Gründern der Pariser "Liga für jüdische Kolonisation", die 1935 eine Sektion der internationalen Freiland-Liga wurde und in deren Vorstand Döblin bis 1936 aktiv war. Mehrere seiner Aufsätze erschienen in jüdischen Zeitschriften auf jiddisch, und er selbst begann jiddisch zu lernen (vgl. Briefe, S. 207), kam dabei allerdings wohl auch nicht weiter als mit dem Französischen. Im Juni 1935 redigierte er das einzige deutschsprachige Heft der Zeitschrift "Freiland", in dem er den programmatischen Aufsatz "Grundsätze und Methoden eines Neuterritorialismus" veröffentlichte (jetzt in A. D.: Schriften zur Politik und Gesellschaft. S. 309-338). Im Monat darauf nahm er in London an der Konferenz der europäischen Freiland-Ligen teil, hielt den Eröffnungsvortrag "Ziel und Charakter der Freilandbewegung" (auf jiddisch veröffentlicht: Cil un charakter fun der Frajland-Bawegung. Warsze (Frajlandlige far teritorjalistiszer kolonizacje) 1935), sprach auch das Schlusswort, war vom Verlauf des Ganzen aber tief enttäuscht. Statt der von ihm erhofften Grundsatzdebatten kümmerte man sich hauptsächlich um Organisatorisches und um Querelen zwischen den verschiedenen Gruppierungen. 1938, nach seiner Trennung von den Territorialisten, hat er seinem Unmut in einem Artikel für die Pariser Zeitschrift "Ordo" Luft gemacht; "erbärmliches Intrigantentum, Faulheit, Doppelzüngigkeit und den erschütterndsten Unernst" habe er damals erlebt, "Ränkeschmiede, Maulhelden, Politikaster, Stellenjäger" seien da am Ruder (Von Führern und Schimmelpilzen. In: Ordo, 1. Jg., Nr. 3, 5.8.1938).

In dieser Schelte kulminierte, was sich über mehrere Jahre in Döblin aufgestaut hatte. Schon im Dezember 1934 hatte er an Isidor Lifschitz geschrieben: "Ich selbst habe nur eine halbe Freude an der Liga, weil sie zu einseitig sich auf 'Land' verlegt und nicht das nach meiner Meinung centrale Thema der Menschen, der jüdischen allgemeinen Erneuerung aufgreift." (Briefe, S. 199). Damals setzte er noch Hoffnungen auf die Londoner Konferenz, spielte andererseits mit dem Gedanken, sich vom Territorialismus zu trennen und einen "Bund Neues Juda" zu gründen (ebd., S. 200). Er wollte nicht ablassen von seinen im Grunde (und angesichts der historischen Situation erst recht) utopischen Vorstellungen, hoffte weiter, einerseits eine konkrete Umsetzung seiner damaligen Konzeption vom Menschen herbeiführen helfen zu können, andererseits für sich selbst eine geistige Gemeinschaft und eine Heimat zu finden. Neben die inneren Irritationen traten solche von außen. Sein Engagement für den Territorialismus stieß bei vielen Mitemigranten auf Unverständnis, wenn nicht gar, wie in der kommunistischen Exilpresse, auf den Vorwurf, er habe sich vom Faschismus anstecken lassen (Vgl. Otto Heller: Das dritte Reich Israel. In: Neue deutsche Blätter, 1. Jg., Nr. 5, Januar 1934, S. 304-313; Maria Lazar: Die Infektion des Doktor Döblin. Ebd., Nr. 6, 15.2.1934, S. 380-383). Auch Ludwig Marcuse reagierte auf die "Freiland"-Nummer vom Juni 1935 mit einer heftigen Polemik (Döblin greift ein. In: Das Neue Tagebuch, 3. Jg . Nr. 33, 17.8.1935, S. 783-785).

Was Döblin trotz solcher Negativerlebnisse bis 1937 an der Freiland-Bewegung festhalten ließ, war wohl nicht zum wenigsten die Bekanntschaft mit Nathan Birnbaum, dem Verfechter eines religiös gefärbten Territorialismus, in dessen Zeitschriften "Der Ruf" (Rotterdam) und "Volksdienst" (London) er mehrere Artikel veröffentlichte und mit dem er eine (bislang nicht publizierte) intensive Korrespondenz geführt hat (Huguet, S. 89-94). Über alle inhaltlichen Divergenzen hinweg verehrte Döblin die moralische und intellektuelle Integrität Birnbaums, dessen Tod am 2. April 1937 ihn einer wesentlichen Stütze beraubte.

Damals arbeitete er schon seit längerem an seiner Südamerika-Trilogie "Das Land ohne Tod", in der er die Geschichte des Abendlandes seit dem Zeitalter der Entdeckungen reflektierte und im Geist des von ihm so genannten 'Promethismus' (in der totalen Autonomisierung des Menschen) und in der Herausbildung eines instrumentellen Denkens die Ursachen für den Absturz in den Faschismus zu entdecken glaubte. Der größte Teil der Trilogie ist der Geschichte der Jesuitenrepublik in Paraguay gewidmet, dem schließlich scheiternden Versuch, ein Gemeinwesen und eine Zufluchtsstätte abseits des hektischen Eroberns, Vertreibens, Ausrottens zu schaffen. Was hier in Wahrheit (oder doch wesentlich mit-) gemeint war, erhellt aus einem Passus in "Flucht und Sammlung des Judenvolks" bzw. in "Grundsätze und Methoden eines Neuterritorialismus". Dort wird als Einwand der "Realisten, Historiker, Sozialisten" gegen den Territorialismus formuliert (und zurückgewiesen), solche Bemühungen seien wirklichkeitsfremd und völlig idealistisch: "Wir haben an den Jesuiten in Paraguay ein Beispiel. Es gibt keine Inseln mehr auf der Erde." (Schriften zur Politik und Gesellschaft, S. 327) - In der Südamerika-Trilogie, die er im gleichen Jahr zu schreiben begann, hat Döblin für sich selbst diesen Kritikern sozusagen recht gegeben.

Ebenfalls 1935 hatte er in der Pariser Nationalbibliothek die Schriften Sören Kierkegaards und die des Mystikers Johannes Tauler entdeckt. Hier eröffnete sich für ihn persönlich ein neuer Weg auf seiner Suche nach einer Konkretisierung dessen, was er 1927 noch "das Ich über der Natur" oder auch den "ewigen Urgrund" genannt hatte. Auffällig war schon die häufige Nennung Gottes in den Schriften zur 'Judenfrage', insbesondere in "Flucht und Sammlung des Judenvolks"; dort stand sogar ein Gebet am Ende.

Dass der ehemals kämpferische Atheist Döblin sich schließlich der Religion zuwandte, kann niemanden verwundern, der seine Werke aufmerksam gelesen hat: Die religiöse Unterströmung ist von früh auf unverkennbar, und seine Rebellion gegen die Vater-Autorität entsprang gerade der Sehnsucht nach einer solchen. Warum aber ausgerechnet der Katholizismus? Auch das ist so verwunderlich nicht. Die jüdische Religion in der ihm bekannten Form und der jüdische Ritus blieben ihm innerlich fremd (vgl. etwa Briefe, S. 275 und S. 259; Schriften zu Leben und Werk, S. 62). Die Gestalten der Gottesmutter und des Gekreuzigten dagegen haben ihn schon früh fasziniert - eine Faszination, die aus biographischen Voraussetzungen erklärt werden kann. Und auch da hat die Reise nach Polen bestärkend gewirkt. Tief beeindruckt war er von der polnischen Madonnenverehrung, von der Krakauer Marienkirche und dem Kruzifix des Veit Stoß hoch über dem Mittelschiff. Diese Szenerie hat er im dritten Band der Südamerika-Trilogie noch einmal beschworen. Sie trat ihm verwandelt wieder vor Augen, als er 1940 auf der Flucht durch Frankreich in einem Flüchtlingslager gestrandet war, der Verzweiflung anheim zu fallen drohte und vor dem Kruzifix in der Kirche von Mende erkannte, dass seine bisherige Weltanschauung ihm nicht weiterhalf. In seiner Konzeption vom Menschen als 'Stück und Gegenstück der Natur' war nämlich ein zentrales Problem ungelöst geblieben: das des Leidens in und an der Zeitlichkeit. Nun, 1940, glaubte er zu erkennen: "Der Mangel an Gerechtigkeit in dieser Welt beweist, dies ist nicht die einzige Welt." Und: "Es ist unmöglich, den 'Ewigen Urgrund' zu empfinden. Es muß, damit es ganz an uns herankommt, das Wort 'Jesus' hinzutreten." (Schicksalsreise. S. 169 und 214) In Los Angeles suchte er dann das Gespräch mit Patres der Societas Jesu, deren Bemühungen um eine behutsame Indiander-Mission er ja schon im 2. Band der Südamerika-Trilogie ein Denkmal gesetzt hatte. Ein Übertritt zum Protestantismus, dem seine Frau und sein ältester Sohn schon angehörten, kam für ihn nicht in Frage; diese Ausformung des Christentums war ihm zu abstrakt und ermangelte des Bilderreichtums, der ihn am Katholizismus gerade faszinierte (vgl. Huguet, S. 111). Seine Hinwendung zum katholischen Glauben ist also eine sehr persönliche, von seiner Biographie und seiner weltanschaulichen Entwicklung her nicht unverständliche Entscheidung gewesen, über die man schwerlich rechten kann.

Anders steht es vielleicht mit der Geheimhaltung dieser Entscheidung bis Kriegsende. Hier spielten zwei Motive ineinander, deren jeweiliges Gewicht sich schwer abschätzen lässt. Zum einen wollte Döblin seine Konversion nicht zum Politikum werden lassen, nicht den Eindruck erwecken, er lasse das verfolgte jüdische Volk im Stich. An das befreundete jüdische Ehepaar Elvira und Arthur Rosin schrieb er am 17. September 1941:

"Würde ich, was gar nicht der Fall ist, heute oder morgen katholisch oder protestantisch werden, warum sollte ich es nicht - wofern es 'in meinem Busen' bleibt? Es wird jetzt bekannt, daß der Philosoph Bergson, bekanntlich ein Jude, schon jahrelang Katholik war; er behielt es aber als seine Privatsache bei sich und wußte, daß in dieser Zeit ein Hervortreten damit bedeuten würde dem eigenen Volk in den Rücken zu fallen." (Briefe, S. 259)

Und, auf sich selbst bezogen:

"Würde ich mit irgendwelcher christlicher Haltung und entsprechenden Worten an die Öffentlichkeit treten und gar jetzt, so würde das ein 'Verrat' sein, nämlich an dem, was ich ja auch bin, am Jüdischen." (Ebd., S. 258)

Andererseits war Döblin damals von den Zuwendungen jüdischer Hilfskomitees und jüdischer Privatpersonen wie des Ehepaars Rosin abhängig und vermied es auch darum ängstlich, von seiner Konversion etwas verlauten zu lassen. Den Sohn Peter bat er am 6. Dezember 1943 zum wiederholten Male dringlich um "absolute Diskretion": "ich hätte sonst massenhaft Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten dadurch; ich will es während des Krieges absolut zurückhalten." (Ebd., S. 298)

Hierüber abschließend zu urteilen fällt nicht leicht. Elvira Rosin immerhin, die auf erste Gerüchte von Döblins Konversion mit dem Vorwurf des Verrats reagiert hatte, ist nach der Lektüre des Religionsgesprächs "Der unsterbliche Mensch" (1946) offenbar anderen Sinnes geworden. Jedenfalls schrieb Döblin ihr am 30. September 1948: "Der gute alte Ton hat mich wirklich sehr gefreut, liebe Frau Elvira: Sie haben wieder so aufrichtig, aber diesmal versöhnt geschrieben." (Ebd, S. 393, vgl. auch ebd., S. 406)

Abgesehen von autobiographischen Mitteilungen finden Äußerungen Döblins zum Judentum und zum Staat Israel sich in den späten Schriften nur selten. In seinen Radio-Beiträgen "Kritik der Zeit", die er von 1946 bis 1952 über den Südwestfunk gesprochen hat, sind sie - soweit ich sie bislang kenne - eher oberflächlich, der Tendenz nach sind die Stellungnahmen, die Döblin der Entstehung des Staates Israel gewidmet hat, positiv. Interessanter sind zwei Briefe an Arnold Zweig, der 1948 aus Israel nach Ost-Berlin zurückgekehrt war. Am 16. Juni 1952 schrieb Döblin an ihn:

"Ich denke auch öfter, sehr oft an Palästina und an das Judentum. Sie waren ja drüben, aus welchem Grunde Sie zurückkehrten, weiß ich nicht, aber mir scheint auch, so positiv man zu vielen drüben steht, so sehr man die Heimstätte begrüßt, es dürfte drüben kaum der rechte Platz für unsereins sein, das Judentum ist längst geistig aus dem nationalen und lokalen Rahmen herausgetreten, und wie können dann gerade die Geistigen und Intellektuellen wieder in den alten Rahmen, den eine andere Geistigkeit geformt hatte, zurück treten: wir haben die Pflicht und den Willen, für eine größere und neue Gesellschaft den Rahmen zu formen [...]." (Briefe, S. 453)

Am 6. Oktober desselben Jahres aber, nachdem Zweig die Gründe für seine Rückkehr zu erklären versucht hatte, schrieb Döblin im Anschluss an eine Philippika gegen die restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik:

"Sie werden staunen über das, was ich Ihnen über Ihre Israelsätze sage: Sie hätten besser drüben bleiben sollen, dort genau die Sache, die Sie jetzt vertreten, dort vertreten sollen. Dort drüben wären Sie ein lebendiges und aktives Element, in Deutschland macht man Sie zu Schutt und Asche." (Ebd., S. 456)

Allgemeiner, nicht nur aus der Perspektive der jeweilige Wirkungsmöglichkeit, hatte er sich schon am 4. Mai 1950 in einem Brief an Martin Buber geäußert:

"Es ist etwas Schönes und Neues und wahrhaft Gutes, das Sie dort ins Leben gerufen haben, eine Zufluchtsstelle für große Massen schuldloser und gejagter Menschen. Und mehr: Die Sicherung dieser Menschen im Zusammenhang mit einem Boden, der ihnen dann wirklich Heimat wird. [...] Dies haben Sie begonnen und dies führen Sie jetzt weiter, und ich freue mich darüber, wie ich mich über Ihren Staat freue, daß er da ist. Mich selbst hat meine Geburt, mein Wachstum, mein Schicksal, auf einen anderen Weg geführt, der auch nicht zufällig und neuartig ist. [...] Für mich steht die Frage [...] nicht nach Land und Staat und politischer Heimat, sondern nach Religion, nach Diesseits und Jenseits und nach dem ewigen Urgrund, den Sie und ich Gott nennen. Ich kann darum Ihre Haltung und alles, was Sie betreiben, segnen und kann doch für mich selber sagen, hier im Lande: Ich spreche nicht von Staat und nicht von der Heimat, aber so ist es geworden, und hier stehe ich und kann nicht anders." (Ebd., S. 411f.)

Um diesen durchaus fragmentarischen Überblick abzuschließen, möchte ich festhalten: Das Judentum, die jüdische Herkunft, die jüdische Überlieferung und das, was man beschönigend 'das jüdische Schicksal im 20. Jahrhundert' nennt, sind für Döblins Leben und Werk von entscheidender Bedeutung gewesen. Er verdankt dem Judentum Grundmotive seines Fühlens, Denkens und Schreibens, und in den Jahren 1924 bis 1937 hat er es auch an persönlichem Einsatz nicht fehlen lassen (wie immer man über die Richtung dieses Einsatzes denken mag). Dass er dann den Schritt vom Judentum zum Christentum getan hat, einen Schritt, den er als auch objektiv historisch vorgezeichnet empfand (vgl. ebd., S. 406), bleibt eine persönliche Entscheidung, die man als solche wohl hinnehmen muss.

Wie es umgekehrt steht: Wieweit aus jüdischer Sicht dieser schwierige Mensch und schwierige Autor denn doch auch als Gewinn, vielleicht sogar als doch auch ein 'Gerechter' angesehen werden kann, darüber steht ein Urteil mir nicht zu.

Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Frankfurt am Main 1949.

Alfred Döblin: Unser Dasein. Olten und Freiburg i. Br. 1964.

Alfred Döblin: Reise in Polen. Olten und Freiburg i. Br. 1968.

Alfred Döblin: Briefe. Olten und Freiburg i.Br. 1970.

Alfred Döblin: Der deutsche Maskenball. Wissen und Verändern. Olten und Freiburg i.Br. 1972.

Alfred Döblin: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Olten und Freiburg i.Br.1972.

Alfred Döblin: Griffe ins Leben. Berliner Theaterberichte 1921-1924. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Beyer. Berlin 1974.

Alfred Döblin: Kleine Schriften I. Olten und Freiburg i.Br. 1985

Alfred Döblin: Schriften zu Leben und Werk. Olten und Freiburg i.Br. 1986.

Alfred Döblin 1878/1978. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. München 1978. (= Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 30, hrsg. v. Jochen Meyer in Zusammenarbeit mit Ute Doster).

Nachbemerkung: Inzwischen sind weitere Bände der Döblin-Ausgabe erschienen, von denen zwei für unser Thema besondere Bedeutung haben:

Alfred Döblin: Schriften zu jüdischen Fragen. Olten und Freiburg i. Br. 1995 (darin auch: "Jüdische Erneuerung" und "Flucht und Sammlung des Judenvolks"). Herausgebenen, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Hans Otto Horch.

Alfred Döblin: Briefe II. Olten und Freiburg i. Br. 2001 (darin auch Döblins Briefe an Nathan Birnbaum)

Anmerkung der Redaktion: Eine weitgehend identische Fassung dieses Beitrages erschien 1993 in: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Hg. von Itta Shedletzky und Hans Otto Horch. Tübingen 1993 (=Conditio Judaica, 5). S. 153-163. Wir danken dem Verfasser für die Genehmigung zur Publikation.