Schopenhauer schlägt Kant und trifft sich selbst

Margot Fleischer dokumentiert Schopenhauers Kritik der Kantischen Ethik

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der junge Arthur Schopenhauer 1819 an der Berliner Universität seine ersten Vorlesungen hielt, legte er besonderen Wert darauf, dass sie zur gleichen Zeit stattfanden wie diejenigen Hegels. Anders als der unbekannte Novize auf dem Berliner Lehrstuhl, war Hegel, aus dessen Munde kein geringerer als der Weltgeist zu den - damals noch ausschließlich männlichen - Studenten sprach, immerhin der wohl angesehenste zeitgenössische Philosoph deutscher Zunge. Nur Schopenhauer, der sein gerade erst vierzig Jahre später zu Ruhm und Ehren kommendes Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" veröffentlich hatte, hielt rein gar nichts von Hegels Philosophie und hoffte wohl, dem berühmten Konkurrenten durch die zeitgleiche Terminierung über kurz oder lang die Studenten abspenstig zu machen. Dass der Vorlesungssaal Hegels weiterhin überfüllt war, sich in Schopenhauers Vortrag jedoch kaum ein Student verirrte, dürfte allerdings außer dem passionierten Willensverneiner selbst kaum niemanden erstaunt haben. Jedenfalls sagte Schopenhauer nach nur vier Semestern der universitären Karriere Valet und betonte fortan, dass er im Unterschied zu anderen nicht von, sondern für die Philosophie lebe, was ihm als Rentier auch keine größeren Schwierigkeiten bereitete. Hegel allerdings gedachte er in seinen Werken noch so manches mal und übergoss ihn mit polemischen Ausfällen, die - das muss man sagen - gelegentlich schon mal die inhaltliche Kritik ersetzen mussten, was Schopenhauer auch gar nicht ableugnete, sondern frei bekannte: "Ueber diesen [Hegel] allein habe ich, ohne Kommentar, mein unqualifiziertes Verdammungsurtheil in den entschiedensten Ausdrücken ergehn lassen", denn Hegel habe auf Philosophie und Literatur einen "höchst verderblichen, recht eigentlich verdummenden, man könnte sagen pestilenzialischen Einfluß gehabt".

Doch Schopenhauer war nicht nur ein Meister der eloquenten Schimpfkanonade - eine Fertigkeit, von der er reichlich und mit offenbarem Vergnügen Gebrauch machte -, er konnte auch in höchsten Tönen loben. Galt seine Kritik, neben Hegel etwa dem "Windbeutel" Fichte - den er allerdings als "Talentmann" immer noch "hoch über Hegel" stellte, so pries er insbesondere den "göttliche[n]" Platon und Immanuel Kant, den "vielleicht [...] originellsten Kopf, den jemals die Natur hervorgebracht hat" und dessen Philosophie "ein Meisterstück menschlichen Tiefsinns" sei. So meisterhaft jedoch, dass Schopenhauer nicht allerlei daran zu kritisieren fand, schien sie ihm nun allerdings auch wieder nicht. So hat er nicht nur das Kant noch unbekannte "Ding an sich" als "Wille" entlarvt, sondern etwa auch dessen deontologische Ethik einer vehementen Kritik unterzogen. Dieser Kritik hat Margot Fleischer eine "kritische Dokumentation" gewidmet, wie im Untertitel ihres Buches "Schopenhauer als Kritiker der kantischen Ethik" angekündigt wird. Das ist allerdings vielleicht etwas viel gesagt, denn tatsächlich changiert das schmale Bändchen eher zwischen einer mit ausführlichen Zitaten gespickten Paraphrasierung und einer Dokumentation.

Schopenhauer wäre nicht Schopenhauer, wenn er seine Kritik an Kant nicht mit dem nötigen Selbstbewusstsein und der Überzeugung vorgebracht hätte, den Blinden, denen Kant den Star gestochen hat, nun noch die ihnen notwendige Brille aufzusetzen. Fleischers Auffassung, dass man die eigene Leistung kaum selbstbewusster unterstreichen könne als Schopenhauer, ließe sich allerdings durch einen Blick in Nietzsches Schriften, etwa in den "Ecce homo", schnell korrigieren.

Fleischers Buch konzentriert sich auf die beiden von Schopenhauer eingereichten Preisschriften über die Grundlage der Moral und über die Freiheit des Willens, die 1841 gemeinsam unter dem Titel "Die beiden Grundprobleme der Ethik" veröffentlicht wurden, wobei Schopenhauer nicht versäumte, auf dem Titelblatt zu vermerken, dass erstere preisgekrönt wurde, die zweite jedoch nicht. Fleischer sieht Kants kategorischen Imperativ durch Schopenhauers Verneinung des Freien Willens "durchaus getroffen". Schopenhauer schlage Kant "mit dessen eigener Waffe". Auch zeige Schopenhauers Hinweis, dass der Eudämonismus, den Kant, wie er schreibt, "feierlich zur Hauptthüre seines Systems hinausgeworfen" habe, als "höchstes Gut zur Hinterthüre wieder hereinschleicht", einen "echten Problemzusammenhang" auf. Doch "einige Pfeile", die Schopenhauer auf Kant "abgeschossen" habe, wendeten sich nicht nur gegen Kant, sondern kamen auf ihn zurück. Wäre er mit der "Spürnase", die er Kants Schwächen gegenüber bewiesen hat, auch an seine eigenen Schriften herangetreten, so hätte er auch in ihnen "hier und da" einen "verfeinerten Egoismus" erschnüffeln können, resümiert die Autorin zu Recht.

Titelbild

Margot Fleischer: Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik. Eine kritische Dokumentation.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
74 Seiten,
ISBN-10: 3826024702

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