Pragmatische Orientierung

Zum "Schriften"-Band des neuen Brecht-Handbuchs

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einer gemessen am Gesamtumfang geringen, nur etwa halbjährigen Verzögerung nähert sich ein Großprojekt der Brecht-Forschung seinem Abschluss: die Erweiterung des zweibändigen Handbuchs von Jan Knopf auf ein fünfbändiges Kollektivwerk, das dem neuen Stand der Forschung gerecht wird und sich an der - trotz Mängeln im Detail - auf absehbare Zeit maßgeblichen kommentierten Berliner und Frankfurter Werkausgabe orientiert. Zu bewundern ist also zunächst eine angesichts der Vielzahl der Beiträger außerordentliche organisatorische Leistung.

Der vierte Band zu "Schriften, Journalen, Briefen" teilt viele Vorzüge und Schwächen mit seinen Vorgängern. Schwachpunkt ist wieder die Einleitung, in der die Autorin, hier Astrid Oesmann, im Schnelldurchgang einige Texte aus verschiedenen Lebens- und Werkphasen Brechts weniger präzise als in den folgenden Beiträgen umreißt. Funktion einer Einführung wäre es statt solch notwendig unvollkommener Vorwegnahme gewesen, die Anordnung des Bandes zu begründen und wenigstens zu problematisieren, was denn eigentlich bei Brecht zu "Schriften" zu erklären ist. Schwäche ist zudem der Umfang vieler Artikel. Zu vielen Gebieten fällt die Orientierung schwer, die Beiträge dehnen sich weit über den gängigen Handbuchcharakter aus; leider fehlen die Zwischenüberschriften der Aufsätze im Inhaltsverzeichnis.

Man mag auch Einwände gegen den einen oder anderen Beitrag erheben. Wenn Jürgen Hillesheim nationalistische Zeitungsartikel des jugendlichen Brecht im Ersten Weltkrieg zu lediglich einem Experiment mit der Gattung erklärt, überzeugt das wenig. Klaus-Dieter Krabiel hätte es nicht nötig, am Ende seines im übrigen instruktiven Artikels zu den Schriften zum Lehrstück darauf hinzuweisen, dass "die Untersuchung von Krabiel überwiegend mit Zustimmung aufgenommen worden" sei, während er das Ergebnis seines Widerparts Reiner Steinweg durch die Bemerkung "nach wissenschaftlichen Kriterien nicht diskutierbar" abwertet. So produktiv abgrenzende Polemik andernorts sein mag, ein Handbuch ist dafür nicht der geeignete Ort.

Dennoch macht die Qualität der einzelnen Beiträge insgesamt den Wert des Bandes aus. Fast stets wird man zuverlässig und anregend informiert. Bemerkenswert ist auch die Offenheit des Herausgebers Jan Knopf, Mitherausgeber der neuen großen Brecht-Ausgabe. Knopf gewährt nicht allein punktuellen Kritiken an Kommentierung und Anordnung dieser Bände Raum, sondern lässt auch scharf formulierte, generelle Einwände gegen die Anlage der Ausgabe zu. Ausgabe wie Handbuch begreift er offenbar nicht als Instrument, sein Brecht-Bild zu verankern, sondern durchaus brechtisch als Foren für eine gemeinsame Arbeit an der adäquaten Verbreitung eines noch heute lehrreichen Werks.

Wichtigster der Kritiker ist Dieter Schlenstedt, dessen Überblicksbeitrag zu den Schriften von 1933-1941 leistet, was Sache der Einleitung gewesen wäre: den Gegenstandsbereich des Bandes abzugrenzen. Tatsächlich versteht sich nicht von selbst, was bei Brecht "Schriften" sind. Das alte Handbuch gruppierte anders: Die Äußerungen Brechts zu seinen Stücken fanden sich im Theater-Band, das "Buch der Wendungen" hingegen, heute im Band zur Prosa vorgestellt, gehörte damals zu den Schriften. Die Frage, ob der Autor direkt spricht, kann nicht das entscheidende Kriterium gewesen sein, denn der vielperspektivische "Messingkauf" gehört nun zu den "Schriften" und wird also im vorliegenden Band erläutert.

Ist die neue Brecht-Ausgabe das Modell des Handbuchs? Ihr Vorzug ist, dass die thematischen Zusammenstellungen verdienstvoller früherer Herausgeber aufgelöst wurden und Brechts "Schriften" chronologisch angeordnet sind. Die Geschlossenheit einer politischen, dramaturgischen usw. Theorie tritt dadurch zugunsten der Dokumentation einer Arbeit zurück, in deren Verlauf ästhetische, philosophische wie auch politische Überlegungen als Gesamtversuch erscheinen, mit einer widersprüchlichen Geschichte produktiv umzugehen. Doch verfuhren schon die Herausgeber der neuen Brecht-Ausgabe inkonsequent. Das ergab sich teils aus der Anlage der Ausgabe als erweiterte und kommentierte Lese-Ausgabe: Von den in immer neuen Fassungen vorliegenden Stücken, selbst den häufig fragmentarischen Prosa-Werken, mussten - getrennt von den "Schriften" - Versionen ausgewählt oder die Skizzen für ein Werk geschlossen präsentiert werden, sollte ein Publikum jenseits von Forschern mit Spezialinteressen von der Edition profitieren. Dass indessen die "Texte zu Stücken" und die "Theatermodelle" in je einem Band ihrer chronologischen Anordnung enthoben sind, ist zu Recht kritisiert worden.

Auf die Inkonsequenz der Editoren reagiert Jan Knopf als Herausgeber des Handbuchs wiederum inkonsequent. Die Schriften zum Theater sind nun sämtlich im chronologischen Zusammenhang vorgestellt. Gleichzeitig aber sind in Zeitblöcken, die sich an den vielfach politisch erzwungenen Ortswechseln in Brechts Biographie festmachen, die "Schriften" wieder thematisch geordnet, wie Unterkapitel wie "Zum Theater" oder "Zu Politik und Gesellschaft" zeigen. Ein angesichts unzähliger, bewusst fragmentarischer Texte (die zu den "Schriften" zählen) unverzichtbares Werkregister erlaubt zum Glück eine Orientierung noch vor Erscheinen des für den Herbst angekündigten Registerbands zum Handbuch. Jede Kritik lässt sich auch dadurch relativieren, dass Gesamtausgaben und Handbücher gemeinhin nicht Text nach Text durchgearbeitet werden. Über den Gebrauchswert entscheidet, ob Text und Erörterung schnell aufzufinden und zuverlässig sind.

Gegenüber dem alten Handbuch bietet das neue nützliche Ergänzungen. Die Tagebücher und Journale sind nun eigens in Artikeln vorgestellt, in einem besonders instruktiven Beitrag Silvia Schlenstedts zudem die Briefe; überzeugend relativiert Jan Knopf den dokumentarischen Wert der überlieferten "Gespräche" Brechts. Den Aufsatz über Brechts Publikationsreihe der "Versuche" (Joachim Lucchesi) wird man an diesem Ort vielleicht nicht suchen und deshalb nicht finden; dabei wären ihm viele Leser zu wünschen, wie auch den Beiträgen zur Druck- (Klaus Völker) und Wirkungsgeschichte (Siegfried Mews), die hier ihren ebenfalls problematischen Randplatz in einem an der Erörterung von Texten orientierten Handbuch einnehmen. Der Beitrag zur Aufführungsgeschichte (Petra Stuber) wäre vielleicht im Band zu den Stücken besser aufgehoben gewesen.

Titelbild

Jan Knopf (Hg.): Brecht Handbuch. Band 4. Schriften, Journale, Briefe.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
547 Seiten, 64,90 EUR.
ISBN-10: 3476018326

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