Bismarck-Dramaturgie für Drehbuchschreiber

Zu einer Neuausgabe von Gustav Freytags "Technik des Dramas"

Von Florian GelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Gelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anzuzeigen ist eine eigentlich unspektakuläre Neuerscheinung: Im Berliner Autorenhaus-Verlag ist "Die Technik des Dramas" (1863) neu aufgelegt worden, eine dramentheoretische Schrift, die der vor allem durch seine Romane ("Soll und Haben", "Die Ahnen") bekannte Gustav Freytag (1816-95) vor rund 150 Jahren erstmals veröffentlichte. Die auf dem Text der "Gesammelten Werke" basierende, preisgünstige Neuausgabe ist die vorläufig jüngste einer Reihe von Neuausgaben und Nachdrucken dieses populären longsellers. Vom 19. Jahrhundert an und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erfuhr die als praktische Anleitung für angehende Dramatiker konzipierte "Technik des Dramas" zahlreiche Neuauflagen - 1898 ging die "Technik" bei Hirzel in Leipzig in die 8., 1922 in die 14. Auflage. Bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschien 1965 ein Nachdruck (mit der ebenso gelehrten wie umfassenden, 1863 in vier Teilen erschienenen Rezension des Buches durch Wilhelm Dilthey im Anhang), und 1983 wurde die "Technik" als Reclam-Taschenbuch neu aufgelegt. Es handelt sich also bei der vorliegenden, von einem auf "creative writing" spezialisierten Verlag ("Erotik schreiben", "Script-Markt") besorgten Neuausgabe um alles andere als eine Wiederentdeckung eines zu Unrecht vergessenen Textes, sondern um die erneute Edition eines ausgesprochenen Klassikers.

Die vorliegende, ansprechend gestaltete Ausgabe unterscheidet sich in ihrer Ausrichtung allerdings maßgeblich von ihren Vorläufern. Im Unterschied etwa zur Reclam-Ausgabe geht es dem Autorenhaus nicht darum, ein "Dokument" für Literarhistoriker oder Freytag-Forscher zur Verfügung zu stellen; die "Technik des Dramas" wird vielmehr als unübertroffenes "Handbuch" von zeitloser Gültigkeit präsentiert. Hatte Klaus Jeziorkowski, der Herausgeber des Reclam-Bändchens - ein seltenes Phänomen - im Nachwort den von ihm edierten Text mit beißendem Spott unter Beschuss genommen, so heißt es in der Verlagsanzeige zu der hier besprochenen Ausgabe vollmundig, es handle sich bei der "Technik des Dramas" um das neben der aristotelischen Poetik wichtigste poetologische Werk überhaupt! Während Jeziorkowski die "Technik" erbarmungslos als "Heimwerker-Handbuch", "Bismarck-Dramaturgie" und als einen "ins Hausbackene entschärfte[n] Lessing" abqualifizierte und ihr "Gottschedianismus", "runzlige[s] Goethe-Getue" und "olympische[n] Fertig-Stil" vorwarf, gilt sie den Herausgebern der vorliegenden Edition als "wertvoller und nützlicher Begleiter", auf dessen Erkenntnissen die "moderne Drehbuchdramaturgie" aufbaue. Die "Technik des Dramas" sei ein "Grundlagenwerk", das in die Handbibliothek jedes "Theater-, Hörspiel-, Drehbuch- und Romanautors" gehöre.

Diese diametral verschiedenen Ansichten lassen sich aus den andersartigen Erkenntnisinteressen der jeweiligen Herausgeber erklären. Jeziorkowski - und mit ihm die neuere Forschung (vor allem Helmut Schanze) - betrachtet Freytags Dramentheorie im zeitgeschichtlichen Kontext als repräsentatives Kuriosum der Gründerzeit: An einem qualitativen Tiefpunkt der Geschichte der deutschen Dramatik habe Freytag trotzig versucht, theoretisch eine Blütezeit des deutschen Dramas herbeizuschreiben. Die "Technik" kann, der germanistischen Forschung zufolge, allenfalls noch von historischem Interesse sein: als trauriges Dokument einer im bildungsbürgerlichen Biedermeier festgefahrenen Pseudotheorie, die dem Theater als einer "sittlichen Abendschule" ein Fundament geben sollte. Ganz anders die vorliegende Neuausgabe: Die historischen Hintergründe interessieren hier nicht; es geht darum, die Allgemeingültigkeit von Freytags technischen Anleitungen zu bekräftigen und sie für das moderne professionelle Schreiben fruchtbar zu machen. - Gegen diese 'Vermarktung' einer rund eineinhalb Jahrhunderte alten Dramentheorie als Anleitung zum "creative writing" ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Es überrascht aber schon, dass ein Werk des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts, das sich fast ausschließlich auf die (historisch hergeleiteten) Bauformen der Tragödie konzentriert, als Grundlage für die Produktion von Hörspielen, Drehbüchern - ja sogar Romanen - dienen soll. Ein Handbuch für angehende Tragödiendichter, das schon einigen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts altbacken erschien, feiert so als Standardwerk für Drehbuchschreiber ein ebenso unerwartetes wie verblüffendes Comeback.

Im Zentrum von Freytags Theorie stehen kenntnisreiche Überlegungen zum "Bau des Dramas" - wobei mit "Drama" eigentlich stets die Tragödie gemeint ist; wie beim großen Vorbild fehlen Ausführungen zur Komödie. Einprägsam hat Freytag seine Vorstellung einer idealtypischen Tragödie in einem berühmten Schema dargestellt (das auch die Titelseite der vorliegenden Ausgabe ziert). Eine 'gelungene' Tragödie, so Freytag, beschreibe eine zunächst steigende, dann fallende Spannungskurve, die sich in fünf Teile (respektive Akte) gliedern lasse: Einleitung, Steigerung, Höhepunkt und Peripetie, Fall, Katastrophe. Hinzu kommen drei "Stellen": das "erregende Moment" im "steigenden" Teil der Tragödie, das "tragische Moment" sowie das retardierende "Moment der letzten Spannung" im "fallenden" Teil des Dramas - letzteres meint etwa die kurz vor der Katastrophe angedeutete Möglichkeit eines versöhnlichen Ausgangs der Handlung. Das Schema, bis heute hundertfach in Einführungen und Unterrichtsbüchern nachgedruckt, fasst das Kernstück der "Technik des Dramas", das zweite Kapitel über den "Bau des Dramas", prägnant zusammen. Es sind vor allem diese anschaulichen Ausführungen zum Bau der Tragödie, die 'unterirdisch' bis zum heutigen Tag das Schul- und Populärwissen über dramatische Spannung prägen (und in der Tat ließe sich der Plot mancher erfolgreicher cineastischer Großproduktion der letzten Jahre auf dieses Schema zurückführen). Weitere Kapitel der "Technik" widmen sich der "dramatischen Handlung", dem Bau einzelner Szenen, der Zeichnung der Charaktere, der Sprache des Dramas sowie der Stellung des 'modernen' Dichters. Diese produktions- und wirkungsästhetischen Ausführungen, die bewährte dramaturgische 'Kniffe' geschickt in einprägsame Formeln fassen, haben die "Technik" berühmt gemacht, und nicht etwa die historischen und gattungsgeschichtlichen Abhandlungen der "Technik".

Es ist unübersehbar, dass der gesamten Freytagschen Dramentheorie die Konzeption und Begrifflichkeit der aristotelischen Poetik unterliegt. Freytag hatte beim berühmtesten Philologen der Zeit, Karl Lachmann (1793-1851), über die Anfänge des germanischen Theaters promoviert ("De initiis scenicae poesis apud Germanos", 1838), so dass es nicht weiter erstaunt, dass er sich in der "Technik" ausgiebig auf antike und 'philologische' Quellen stützt. Dabei verliert Freytag, der selbst zunächst als Dramatiker Erfolge feierte ("Die Brautfahrt oder Kunz von der Rosen", "Die Journalisten"), nie den 'technischen' Charakter seiner Abhandlung aus den Augen: Es geht dezidiert um die Vermittlung "sichere[r] Handwerkstüchtigkeit", das Beherrschen von "Kunstgriffen", um "Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten des Altertums". Betrachtet man Freytags Ausführungen etwas näher, tritt eine seltsame Kompilation verschiedenster Einflüsse zu Tage, die zu einem eklektischen 'bürgerlichen Klassizismus' zusammengeschmolzen sind. Die 'technischen' Anleitungen zum Bau der Tragödie, der Handlungsführung und Charakterzeichnung sind zwar mittelbar auf Aristoteles zurückführbar - auf einen klassizistischen, 'geregelten' und vereinheitlichten Aristoteles allerdings, und weniger auf die aristotelische Poetik selbst. Die grundlegenden, 'aristotelischen' Überlegungen zur Handlung, die den 'technischen' Aspekt der dramaturgischen Arbeit betonen, kontrastieren auffallend mit den Ausführungen zum 'Dramatischen' an sich, die unschwer als verflachte und vereinfachte Übernahmen aus der idealistischen Poetik zu erkennen sind. Spätestens seit den Ausführungen in den Hegelschen "Vorlesungen zur Ästhetik" (1835-1838) hatte das Drama in der Hierarchie der Gattungen endgültig das Epos auf dem ranghöchsten Platz abgelöst; ein 'Theoretiker' wie Freytag war also gleichsam gezwungen, die Überlegenheit des Dramas - insonderheit der Tragödie - im Gefüge der Gattungen zu bestätigen. So erhält die "Technik" einen eigentümlichen Mischcharakter: Auf die gewichtige 'theoretische' Einleitung, einer 'idealistischen' Grundbestimmung des 'Dramatischen' beziehungsweise des 'Tragischen', folgen rein technische Baupläne und Anweisungen.

Neben Aristoteles und den antiken Dramatikern - vor allem Sophokles, und nicht Euripides, dem "gewissenloseste[n] aller Dichter [!]" - beruhen Freytags Analysen auf den Dramen Lessings und Schillers (insbesondere der "Wallenstein"-Trilogie). Den zentralen und wichtigsten Platz in der "Technik des Dramas" erhält jedoch Shakespeare, der das "Drama der Germanen" am vollkommensten repräsentiere. Ironische Folge dieser 'Eingemeindung' des englischen Nationaldichters: Ausgerechnet Shakespeare, der im Sturm und Drang als Inbegriff des 'unregelmäßigen' Genies gegen den Klassizismus ins Feld geführt wurde, dient dazu, als idealer "germanischer Dichter" die Gültigkeit seiner, Freytags, fünfaktigen Dramenschemata zu beweisen! Sophokleische Tragödien, Schillers Historiendramen und ein unbarmherzig systematisierter und verschulter 'germanischer' Shakespeare - dies sind die grundlegenden Texte für Freytags "Technik des Dramas". Daran lassen sich die drei Höhepunkte in der Dramengeschichte nach Freytag ablesen: die attische (Sophokleische) Tragödie, das von Shakespeare inaugurierte "Drama der Germanen", welches, in strenger Abgrenzung von der französischen Tradition, zu dem unübertroffenen Gipfel der dramatischen Kunst hingeführt habe - dem deutschen Drama um 1800.

Bei dieser abenteuerlichen historischen Konzeption wird nicht nur die europäische Dramengeschichte und Dramentheorie des 18. Jahrhunderts in toto ignoriert: Auch das gesamte dramatische Schaffen etwa Goethes (einschließlich des "Faust"), Kleists, Hebbels, Grabbes oder Büchners wird überhaupt nicht oder nur knapp am Rande erwähnt; die französische, ja überhaupt die 'ausländische' Dramenproduktion wird vollständig übergangen. Insofern fällt Freytag nicht nur hinter Positionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sondern auch hinter Lessings "Hamburgische Dramaturgie" zurück: Das Drama, zu dem seine "Technik" den angehenden Dichter hinführen will, ist ein streng regelmäßiges, klassizistisches Schauspiel, das zwar angeblich auf Aristoteles basiert, insgesamt aber eher dem französischen Klassizismus zugeordnet werden müsste (mehr, als es Freytag wohl lieb gewesen wäre). Ein Schauspiel also, das sich in würdiger Ernsthaftigkeit mit 'nationalen' Stoffen befasst und größere Abweichungen von den vorgebenen Schemata - sowie überhaupt Experimente und Innovationen - vermeidet. Gesellschaftliche Probleme sollen Freytag zufolge personalisiert oder privatisiert werden, das Gute solle siegen, die dargestellten Konflikte sollten nicht diejenigen des Zuschauers sein. 'Ausländische' Einflüsse sollten nach Möglichkeit gemieden werden; Geschichte und 'Spekulation' werden überflüssig, da es allein auf ein überzeitlich 'Tragisches' ankommt.

Es ist bezeichnend, dass eine gleichnamige Vorstudie Freytags zu der "Technik des Dramas" aus dem Jahre 1849 in den "Grenzboten" erschien, jener von Freytag zusammen mit dem Literarhistoriker Julian Schmidt geleiteten nationalliberalen Wochenschrift, in der er die preußisch-kleindeutsche Sache mit 'volkserzieherischen' literarischen Bemühungen zu verbinden suchte. Dieser 'kleindeutsch'-nationalliberale Hintergrund (in räumlicher und ideeller Nähe zu Otto Ludwig und Berthold Auerbach) vermag die eigentümliche Ausrichtung der "Technik des Dramas" zu erhellen. Freytags Dramentheorie entstand in einer Epoche, die von einer unübersehbaren Diskrepanz zwischen Dramentheorie und -praxis gekennzeichnet war: Auf der einen Seite konkurrierten eine große Anzahl zeitgenössischer theoretischer Abhandlungen und Einleitungen, Systematisierungen und Schematisierungen zu der ranghöchsten Gattung; neben den Dramentheorien etwa eines Robert Prutz, Rudolf Gottschall, Hermann Hettner, Otto Ludwig und anderen ist Gustavs Freytags "Technik des Dramas" nur eine von vielen. Diesem Überangebot an 'Theorie' stand im Bürgerlichen Realismus eine Theaterpraxis gegenüber, deren qualitativer Abstand zu den Dramen etwa der 'Goethezeit' geradezu beschämend ist. In dieser Zeit verfasste Freytag sein Kompendium, das die deutschsprachige Dramatik weg von innovativen Experimenten zu einem klassizistischen, risikofreien "Handwerk" hinführen sollte. Man kann nicht umhin, die Stoßrichtung der "Technik des Dramas" als schulmeisterlich, konservativ und restaurativ zu bezeichnen. Freytag will den Beweis antreten, dass auch die 'Großen' nach einigen wenigen, klar umreißbaren 'Rezepten' arbeiten (und wenn sie einmal, wie etwa Shakespeare, von der Regel abweichen, so sei dies als Flüchtigkeitsfehler oder Ausrutscher zu entschuldigen). - Es gibt, zugegeben, wohl Hunderte von deutschsprachigen Dramen aus der Gründerzeit, die Freytags Maßgaben entsprechen würden; bezeichnenderweise vermöchte heutzutage jedoch kaum jemand auch nur eines davon zu nennen. Und nur wenige Jahre nach dem Erscheinen der "Technik des Dramas" wird das von Freytag angepeilte Publikum, das "philiströse" Bildungsbürgertum, zur Zielscheibe der fulminanten Polemik von Nietzsches "Geburt der Tragödie" (1872).

Über alle diese Zusammenhänge verliert die vorliegende Neuausgabe kein einziges Wort. Die Bearbeiter des Textes, Karla Manglitz und Manfred Plinke, verzichten auf jegliche Kommentierung und beschränken sich auf eine behutsame Modernisierung des (vollständigen) Textes. Somit ist die Neuausgabe ein bemerkenswertes Beispiel für die heterogene Rezeption eines Werkes: Dass Freytags Anleitung, unkommentiert und unkritisch, als 'Kochbuch' für "creative writing" und das Verfassen von Drehbüchern verkauft wird, zeugt von der erstaunlichen Persistenz weniger von Freytags 'goldenen Regeln', sondern der 'longue durée' unserer Rezeptionsgewohnheiten. Die Kriterien, nach denen heutzutage das 'Funktionieren' etwa eines populären Kino- oder Fernsehfilms beurteilt wird, sind offenbar nicht so sehr verschieden von den dramaturgischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts, denen Freytag im Bürgerlichen Realismus noch einmal eine kanonische Form verlieh. Und so ist es nur folgerichtig, dass sich "angehende Drehbuchschreiber", um diesen Markt zu bedienen, auf ein 'kleindeutsches' Werk der "Bismarck-Dramaturgie" stützen. Man setzt also im creative writing auf sichere Werte, während umgekehrt die 'Experimente' des 20. Jahrhunderts (das 'epische' und das 'absurde' Theater etwa) ihrerseits längst ,klassisch' beziehungsweise 'historisch' geworden sind. Damit ist nicht einfach die ewige Gültigkeit von Freytags Regeln bewiesen; es sagt auch einiges über die Qualitätsansprüche der heutigen Dramaturgie aus.

Titelbild

Gustav Freytag: Die Technik des Dramas.
Autorenhaus-Verlag Manfred Plinke, Berlin 2003.
295 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3932909577

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