Begeisternd, abstoßend, langweilig

Vier Bücher von Eckhard Henscheid

Von Klaus Cäsar ZehrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Cäsar Zehrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die beeindruckende Bandbreite des von Eckhard Henscheid in kaum mehr als zweieinhalb Dezennien zusammengeschriebenen und allein schon aufgrund seiner schieren Quantität respekt- respektive skepsiserheischenden Oeuvres wird nicht zuletzt offenbar und offenkundig in dem so sonderbaren wie unverrückbaren Sachverhalt, daß es bezaubernd-bestrickende, ja betörendste Pretiosen bereithält, zeitgleich aber auch aggressive Arroganz und affektierte Alliterationshuberei, peinvoll peinliches und protziges Prosagepränge, schwulstiges Geschwalle sowie schwabbliges Geschwurbel, wo nicht gar selbstgefälliges Gesabbel auf des Lesers Keks, Nerven, Sack und Eier, kurz und dumm und jetzt wieder auf deutsch:

Ein Buch von Henscheid ist ein schwer kalkulierbares Risiko. Kein anderer Autor vermag es, mich zu je einem Drittel zu begeistern, abzustoßen und zu langweilen - ein alles in allem doch verlockender Gefühlscocktail. Weshalb sonst greife ich immer wieder zu, wenn ein Henscheidband dort liegt, wo sie über kurz oder lang augenscheinlich fast alle landen: in der Grabbelkiste des modernen Antiquariats.

Kulturgeschichte der Mißverständnisse

Unter Federführung von Eckhard Henscheid und Mitarbeit von Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer entstand eine Schwarte beinahe enzyklopädischen Ausmaßes, in der Henscheid sich in seiner Lieblingsrolle präsentiert: als Alleswisser, der den Knalldeppen um sich herum Bescheid bläst, die Welt als Wirrnis und Falschmeldung erklärt und am Rande wie ein von den Prüfungsfragen unterforderter Schüler ausgelassen herumalbert, um seine himmelhohe Souveränität durch demonstrative Lässigkeit noch herauszustreichen. "Mißverstanden wurde praktisch alles", fassen Henscheid & Co. den Stand der Geistesgeschichte vor Henscheid & Co. zusammen und rücken es, da sie selbst praktisch alles richtig verstehen, in über 120 kurzen und längeren Essays wieder zurecht: daß Dostojewski näher mit Valentin und Polt als mit Tolstoi verwandt sei; daß Wagners "Ring" "zu 51 Prozent der Hochkomik" angehöre; daß Adorno "Wort für Wort Unsinn" über Böll geschrieben habe; daß der Ausdruck "Romantik" eine "Begriffskatastrophe" ausgelöst habe und so weiter.

Bergeweise Belege werden herangeschafft, um die teils überzeugenden und teils windigen, teils altbekannten und teils überraschenden, teils zentrale Fragen berührenden und teils peripheren Thesen zu stützen; am liebsten zitiert Henscheid dabei Henscheid, wodurch so manch pompöser Auftritt zum bloßen Zirkelschluß verkümmert, ganz zu schweigen von den Sachfehlern: Da wird Juvenals "Difficile est satiram non scribere" Horaz zugeordnet, Botho Strauß' Spiegel-Essay "Anschwellender Bocksgesang" mal auf 1992, dann wieder auf 1993 datiert und Tucholsky falsch zitiert ("Was darf Satire? Alles." statt: "Was darf die Satire? Alles."). Sind das Haarspaltereien? Das sind ganz gräßliche Haarspaltereien, die ein fast 600 Seiten starkes Werk nicht kompromittieren können, zumal die Autoren am Ende selbst um Nachsicht gegenüber möglichen Fehlern bitten. Aber das Buch lebt zum Gutteil davon, anderen diese Großzügigkeit nicht zu gewähren und hämisch zu beckmessern oder höhnisch zu kommentieren, wenn irgendwer irgendwen irgendwie anders als Henscheid versteht - ein Unterfangen, das einen fragwürdigen Beitrag zur Aufklärung und der Humanisierung der Menschheit leistet, aber immerhin hie und da für hübsche Erkenntnisse sorgt.

So wirft Henscheid in der FAZ den Mitscherlichs und ihrem Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" nicht nur "schauderhaftes Deutsch", sondern auch "Wirrsinnigkeit" vor, woraufhin Jürgen Habermas per Leserbrief Henscheid einen "Wirrkopf, der seinem unglücklichen Hang zur Satire nachgibt, ohne die deutsche Sprache zu beherrschen" nennt, was Henscheid wiederum bemüßigt, Habermas in einem Antwortbrief als "ziemlich schweren Schwall-, ja Schmarrkopf" zu bezeichnen, in den höheren Sphären des deutschen Geisteslebens geht es zu wie in einem durchschnittlichen Kindergarten.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß das Buch auch eine stattliche Zahl instruktiver, fundierter, sachkundiger, unaufgeregter und brillant formulierter Aufsätze enthält. Die meisten davon haben Brigitte Kronauer und vor allem Gerhard Henschel geschrieben.

Welche Tiere und warum das Himmelreich erlangen können
Neue theologische Studien

Heutzutage der längst in jeglicher Hinsicht abgehandelten und abgehalfterten katholischen Kirche noch die Aufmerksamkeit einer Satire zu schenken, ist so wohlfeil wie überflüssig und läßt abgegriffene Standards über Papst, Pille, Abtreibung et cetera befürchten. Henscheid macht es sich und seinen Lesern dankenswerterweise nicht so billig. Er leistet sich den sympathischen Luxus, sich ungeachtet des unökonomischen Verhältnisses von Aufwand und Ertrag mit furiosem Eifer auf ein verstörend abwegiges Thema zu stürzen. Die scholastische Frage, ob und wenn ja welche Tiere und Tierarten das himmlische Paradies bevölkern beziehungsweise ins Fegefeuer oder gar in die ewige Verdammnis müssen, verfolgt er eben nicht mit akribischer Ernsthaftigkeit und wissenschaftlicher Faktenbesessenheit, die einer theologischen Habilitationsschrift zur Ehre gereichen würde.

Womöglich hat er auch eine solche für seine Zwecke geplündert. Dann wäre immerhin ein Rätsel dieses durch und durch erstaunlichen Buchs geklärt: Woher weiß ein vielbeschäftigter und bekanntermaßen agnostischer Schriftsteller hunderte kirchenhistorischer Details, so etwa, was im Codex Iuris Canonici von 1634 steht, was Boethius in seiner Schrift "De trinitate" aus dem Jahre 520 zu sagen hatte, was Savonarola im 15. Jahrhundert zum Thema schrieb? Mit einer Wissenschaftsparodie haben wir es jedenfalls nicht zu tun: Die Quellenangaben, stichprobenartig überprüft, stimmen alle.

Der geschwollene, latinismenüberladene und hypotaxenselige Sprachgestus Henscheids, oft ungenießbar, erweist sich hier als bestens kompatibel mit einem anachronistischen Erzdogmatismus. Auch die selbstherrlich-beliebige Art, mit der Henscheid so gern ex cathedra richtet, sonst über Menschen, diesmal über Tiere, entfaltet sich zu großer Schönheit und Komik im Kleide des Steinzeitkatholizismus: "Wenig Aussicht, der Hölle zu entrinnen, besteht item für den Pinguin, der schon bald zur Rechenschaft gezogen wird. [...] Im Drüben nichts Gutes erwarte sich in aller Regel der Haubentaucher. Kaum Hoffnung ist für das ganz und gar häßliche Gnu und das allzu unförmige Giraffentier. Alle Zuversicht fahren aber lasse das Krokodil [...] Was aber ist schließlich mit dem bis zu 25 cm langen Altai-Pfeifhasen? Der soll erst mal ins Fegefeuer. Ordentlich ins Fegefeuer."

Ist an Eckhard Henscheid etwa ein Kurienkardinal verloren gegangen? Diese Abhandlung jedenfalls ist im schönsten Sinne bestselleruntauglich und umso mehr als Geheimtip zu empfehlen.

10:9 für Stroh

Drei Erzählungen enthält der Band. Die erste ist die längste und schlechteste, die letzte die kürzeste und beste und die mittlere die mittlere und mittlere, und das kommt nicht von ungefähr. In allen Geschichten nämlich geschieht nicht sonderlich viel, sie leben von der variantenreichen und sprachgewaltigen Ausschmückung des Retardierenden. Diese Erzähltechnik, die Ereignisarmut bücherfüllend macht, wandte Henscheid bereits in seinem "Vollidioten"-Roman von 1973 meisterhaft an, wird aber zuweilen ins Zähe überstrapaziert.

Mit knapp über zwanzig Seiten gerade richtig getimt ist der kühl protokollierende und dadurch umso eindringlichere Reisebericht "Poschiavo - Graz einfach", die angeblich auf einer wahren Begebenheit fußende Schilderung einer Zugreise von Wolfgang Hildesheimer und seiner Frau. Geschlagene und quälende drei Tage brauchte das Paar für die nicht sehr weite Strecke von ihrem Wohnort Poschiavo in Graubünden nach Graz, wo, wie zum Schluß lapidar vermeldet wird, "der Schriftsteller dann am späten Nachmittag im Forum Stadtpark und in reichlich unruhiger, ja nervöser und sogar etwas lärmiger Atmosphäre einer etwa sechzigköpfigen Zuhörerschaft gut zwölf Minuten lang aus seinem neuen, unlängst erst erschienenen Romane vorlas."

Die Mittelgeschichte - der Erzähler beschreibt lang und breit seinen Schmerz (seinen körperlichen, zum Glück nicht seinen seelischen) - sparen wir uns und gehen dafür lieber etwas genauer auf die erste, buchtitelspendende Erzählung ein. Sie handelt von der mündlichen Doktorprüfung des Paradegeisteswissenschaftlers Greif vor einem Prüfungsteam, dem auch ein gewisser Professor Stroh angehört. Henscheid inszeniert daraus einen quasisportlichen Wettstreit: Der Erzähler verteilt Punkte, wenn Stroh oder Greif in einer Situation vorteilhaft dastehen. Dabei wird nicht allein das Rigorosum selbst bewertet (das Greif mit Bravour besteht), sondern auch das Davor, Danach und Drumherum: Den entscheidenden Siegtreffer zum 10:9 etwa landet Stroh spät nachts nach der Prüfung an einem Tankautomaten, als er Greif in der Not einen Geldschein wechselt. Das Profane und Banale steht gleichberechtigt neben dem Hauptsächlichen und Anspruchsvollen und genießt dieselbe Aufmerksamkeit - eines der Erkennungszeichen Henscheidscher Prosa, das mitunter reichlich brachial zur Anwendung kommt, wenn beispielsweise ein Furzgeräusch während der Prüfung nicht unerwähnt bleibt.

Entsprechend wird das Anspruchsvolle profanisiert. Die auf den ersten Blick hochgelehrten Redegefechte, die Greif mit Stroh und den anderen Prüfern führt, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als elaborierte, vor versteckten Anspielungen strotzende Phrasendrescherei. Sei es, daß Stroh "die bekannte Petrarca-Zeile" "voi che entrate et lasciate tutti speranza" zitiert (eine leicht verbogene Variante des "Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate" aus Dantes "Commedia"), sei es, daß ein "Lionel van der Meulensches Prüfungsrechnungsverfahren" erwähnt wird (Lionel van der Meulen ist in Wirklichkeit ein Ex-"Titanic"-Kollege von Henscheid) - Leser mit umfassender Allgemeinbildung können auf knapp 130 Seiten schätzungsweise 287 absichtlich eingestreute Fehler und Halbwahrheiten entdecken.

Dieses ermüdend in die Länge gezogene Suchspiel für Intellektuelle verschafft dem Autor Gelegenheit, sich in Pose zu setzen: "Seht her, wie gescheit und gebildet ich bin und zugleich den akademischen Betrieb verachte und verarsche!" An dieser Haltung ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Außer, daß uns Henscheid seit Jahr und Tag immer und immer wieder die gleiche Botschaft auftischt: "Seht her, wie gescheit und gebildet ich bin und zugleich den akademischen Betrieb verachte und verarsche!" Ja doch, wir haben's allmählich vernommen.

Goethe unter Frauen

Eckhard Henscheids Beitrag zum Goethejahr besteht laut Klappentext darin, elf zentrale Frauen aus Goethes Leben (inklusive seiner Mutter und Fausts Gretchen) aus dem "Schlagschatten ihrer meinungsseligen Deutgesellen" herauszuholen und selbst zu Wort kommen zu lassen. Nun, der Klappentext behauptet viel, zum Beispiel auch, daß Henscheid "einer der gewichtigsten Autoren der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur" sei.

Henscheid ist der letzte, von dem einfühlsame, historisch genaue und sorgfältig recherchierte Rollenprosa aus der Perspektive von Goethes Frauen zu erwarten wäre, und natürlich und unvermeidlich macht auch er sich zum Deutgesellen, und zwar zu einem besonders unbekümmerten und vorwitzigen. Zwar dürfen die Frauen in der Ich-Form ihr Verhältnis zu Goethe erzählen (in chronologischer Folge und säuberlich getrennten Kapiteln), aber vom Jahr 1999 aus rückblickend und gleichsam aus dem Grabe auferstanden, so daß Henscheid sehr bequem reinquatschen kann. Wer spricht beispielsweise in folgendem Absatz, Eckhard Henscheid oder Christiane Vulpius? Ich würde sagen: Beide, und zwar im Mischungsverhältnis von etwa 90:10.

"-ja, ein ganz übles Tratsch- und Quatschnest war es damals, unser knapp 6000 meist seelenlose Wesen starkes Weimar, ebenwelches sie aber 1999 zum Ehrengeburtstag meines steinalten Gattensauschwanzes jetzt auch noch zur 'europäischen Kulturstadt' schlagen wollen, diese ahnungslosen Kulturbürokraten, mit fließendem Übergang zur Expo in Hannover, wo dann der sehr grunzdumme Obertheaterregisseursesel Peter Stein (m. W. ein Nachfahr der Frau v. St.) wieder mal den Faust exercieren und kaputtmachen will - und es war dies Weimar ja damals schon eine Kulturhauptstadt der Philister und der Pharisäer und der Spießer, des Drecks und Quarks, wieschon es sich selbst als 'Ilm-Athen' und 'Bethlehem-Juda' (so die alte Superschwatzbase Wieland 1776) ausgab und verherrlichte."

Über die Frauen erfährt man in diesen Wortschwallen kaum etwas, zumindest nichts Zuverlässiges; dafür gibt es zur Genüge andere Bücher, mit denen Henscheid gar nicht konkurrieren will. Er warnt bereits im Vorsatz: "Zuweilen bringen die Protagonistinnen allerdings auch manches durcheinander, erinnern sich falsch oder schwärmen"; das gibt ihm die Freiheit, nach Belieben abzuschweifen oder dazwischenzukalauern, zum Beispiel wenn er Frau von Stein "alle die ihn (Goethe) vorher Abweisenden sprich abgewiesen Habenden" aufzählen läßt: "Lotte. Maxe, Lili, Friederike v. S., Claudia Sch.".

Die Fülle an wahrhaften und seriösen Informationen und Quellenangaben, die eine profunde Goethe-Kennerschaft verrät, gerät dadurch selbst unter Ironievorbehalt - wenn irgendwas nicht stimmt, war's halt im Zweifelsfall ein Witz. So macht sich Henscheid mehr oder weniger unangreifbar, außer an der einen, entscheidenden Stelle: Es bleibt höchst diffus, weshalb das Buch überhaupt geschrieben wurde.

Nun, es ist nicht der einzige entbehrliche Beitrag zum Goethejahr 1999. Wer aber unbedingt etwas von Henscheid über Goethe lesen will, kann auch zum Lesebuch "Unser Goethe" greifen, welches Eckhard Henscheid und F.W. Bernstein zum Goethejahr 1982 zusammengestellt haben. Aus gegebenem Anlaß wurde es kürzlich aufgewärmt, und es ist, soweit ich mich erinnere, ganz in Ordnung. (vgl. literaturkritik.de 1999-04-22.html )

Titelbild

Eckhard Henscheid: Welche Tiere und warum das Himmelreich erlangen können. Neue theologische Studien.
Reclam Verlag, Stuttgart 1995.
184 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3150104149

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eckhard Henscheid / Gerhard Henschel / Brigitte Kronauer: Kulturgeschichte der Mißverständnisse. Studien zum Geistesleben.
Reclam Verlag, Stuttgart 1997.
592 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3150104270

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eckhard Henscheid: 10 : 9 für Stroh. Drei Erzählungen.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1998.
200 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3828600212

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eckhard Henscheid: Goethe unter Frauen.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Frankfurt a. M. 1999.
229 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3828600840

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