Viel Fahrt ums Nichts

Bernd Wagners Urlaubsdias: "Wie ich nach Chihuahua kam"

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine gelungene Eröffnung: Der Ich-Erzähler fährt an den Stadtrand von New York, weil er Schusters Rappen für das angemessene Beförderungsmittel hält, jene Stadt zu verlassen und seine mehrwöchige Amerika-Reise stilgerecht anzutreten. Die Zivilisation bleibt mehr und mehr hinter der Vorortbahn zurück; Endlich ausgestiegen, geht's zu Fuß über eine majestätisch hohe Brücke, weit darunter der Hudson, direkt in einen Wald, mit dem jenes wilde, ländliche Amerika seinen Anfang nimmt, das der wanderfreudige Erzähler wohl gesucht hat. Die trockene, sachliche Sprache, die den Leser in diese unerwarteten Situation hineinstößt, verleiht der Erwartung einer unkonventionellen, etwas schrägen Amerika-Story noch einiges an Nachdruck.

Da die Stadt und das mediale Topos "New York" sich einiger Prominenz rühmen dürfen, hat der Abschied aus der Stadt als Einstieg in das ihr zugehörige Land in einem literarischen Werk zweifellos programmatischen Charakter, so steht zu erwarten. Doch weit gefehlt. Kaum hat sich der Reisende Wagner in einem Backpackerhotel in Niagara Falls niedergelassen, um ein wenig auszuspannen, nutzt Autor Wagner die Gelegenheit und überrumpelt den Leser mit einem Rückblick auf den Aufenthalt im ach so lebhaften New York, in aller Ausführlichkeit - und ohne sich die Klischees entgehen zu lassen.

Ja, den New Yorkern wird nun einmal nachgesagt, trotz Stress und Hektik eine erstaunliche Höflichkeit und Gelassenheit an den Tag zu legen. Da weiß Wagner auch nichts Gegenteiliges zu berichten. Und die Stadt ist bunt und beherbergt die Kulturen der Welt in ihren Mauern. Und die Kiddies mit den weiten Hosen, die im Park skaten oder sich kleine Sandsäckchen zukicken, wirken viel natürlicher als ihre "ungeschickten Kopien" weltweit, weil: Original. Und - dem begeisterten Berichterstatter muss es auffallen, weil es schon so vielen aufgefallen ist, und weil er Autor ist, wird er es niederschreiben - in der Stadt, wie soll man sagen, "brodelt das Leben", und dieses "kennt keine Uhr".

Kapitel zwei (das über New York) wird Wagner zum Sprungbrett, zur Anlaufbahn für ein munteres Parlando, in dem er sich in der Folge einmal durch Nordamerika schreibt, und zwar gegen den Uhrzeigersinn. Der staunende Leser erfährt so einiges über Land und Leute, schmerzhafte indianische Rituale, einen humanistisch gebildeten kolumbianischen Gefängnisdirektor a. D. und die mehr oder weniger greifbare Schönheit nordamerikanischer Städte, die ja irgendwie anders sind. Was der (laut Verlag) "späte Nachfahre von Seume und Humboldt" zu Papier bringt, ist nett im negativen Sinne des Wortes, also harmlos. Gelegentliche Reflexionen über den Zustand jenes wie des unseren Landes führen nicht allzu weit, und dem deskriptiven Teil der Reisebeschreibung ist zu entnehmen, dass die USA irgendwie so sind, wie man sie sich immer vorgestellt hat.

Von einer eigenen Ästhetik kann nur, da aber zu Recht, bei der Gestaltung des Mexiko-Abstechers die Rede sein. Wüste, Hitze, Gestank und verrottete Industrieanlagen, aber auch das unübersichtliche katholische Menschengewirr seiner Städte generieren einen unwirklichen und fremden Gesamteindruck. Die sprachliche Gestaltung dieser Episode hebt sich hervor gegen den Rest, tritt fast in Opposition zum Plauderstil des US-amerikanischen Teils der Reise. Aber eben nur fast, weshalb keine übergeordneten Gestaltungsprinzipien zu entdecken sind, die dem Urlaubsbericht zu mehr Charakter hätten verhelfen können. Unerklärlich bleibt auch der tiefere Sinn des völlig unbefangenen Umganges mit dem Wort "Neger", obwohl "Schwarzer" und "Farbiger" nachweislich zu Wagners Wortschatz gehören.

Was bleibt, ist der Eindruck eines schreibenden Reisenden oder reisenden Schriftstellers, der nicht so recht weiß, was er mit seinen gesammelten Erfahrungen anfangen soll, oder warum er überhaupt ein Buch darüber schreibt.

Titelbild

Bernd Wagner: Wie ich nach Chihuahua kam. Eine amerikanische Reise.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
341 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3882438835

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