Drei Selbstauslöser

Versuch einer Antwort auf die Frage "Wie entsteht ein Roman?"

Von Dagmar LeupoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dagmar Leupold

1. Die Schnecke baut ihr Haus nicht, sondern es wächst ihr aus dem Leib

Im Sommer letzten Jahres wurde ich gefragt, ob ich bei einem Seminar für (zukünftige) Romanautoren als Referentin zum Thema "Vom Entwurf zum fertigen Roman" auftreten möge. Leichthin sagte ich zu, zuversichtlich, dass die Mischung aus Intuition und Erfahrung, über die ich annahm zu verfügen, ausreichend sei, zwei Stunden zum Gewinn aller zu gestalten. Je näher der Termin rückte, umso unbehaglicher wurde mir die Vorstellung, auf die Frage "Wie entsteht ein Roman?" (die auf der Unbeliebtheitsskala gleich hinter "Warum schreiben Sie?" rangiert) mehr oder weniger improvisierend, mehr oder weniger anekdotisch, einzugehen. Ich begann also, wie im mer in Situationen der Ratlosigkeit, die von Aussichtslosig keit noch beruhigend weit entfernt sind, zu blättern. Dies Blättern - in Wörterbüchern, Lieblingsbüchern, unverlangt zugeschickten Büchern - ist beides, systematisch und unsy stematisch: Mich leitet gewissermaßen ein Verdacht (wo der unterschlagene Schatz zu finden sei), und um jenen zu unter mauern, brauche ich sowohl Stichproben als auch den geziel ten Rekurs auf alte Fundstellen.

Im Herkunftswörterbuch stieß ich auf das Wort "Techtel mechtel", versehen mit dem Zusatz: etymologisch ohne Deu tung. Eine klare Sackgasse.

Dann schlug ich Uwe Timms Roman "Der Schlangenbaum" auf, Seite 154, das Buch öffnete sich dort von selbst. "Let's go and have dinner", stand da - ja, das wäre schön: Diesen Zei len beim Rückzug - unter Knistern - in den schwarzen Bild schirm zuzusehen und mit Wagner, der Hauptfigur oder, ersatzweise, seinem Schöpfer, sich auf den Weg zu machen zu einem Restaurant mit cajun cuisine. Entwurf, Roman und Nachdenken darüber würden unter dem Einfluss der hot spi ces schlicht auf der Zunge zergehen, zu nichts verdampfen.

Wenn auch kurz vor der Desertion, blätterte ich dennoch im nächsten Buch, William Carlos Williams, eine schöne, zweisprachige Ausgabe seiner Gedichte aus den sechziger Jahren. "No ideas but in things", umwerfend richtig, unstrei tig wahr, nur das entscheidende Ding, das erlösende Ding, das fehlte noch. Ich nahm die kleine Steinscherbe, poliert wie ein Silex, zur Hand, die immer auf meinem Schreibtisch liegt und in die zwei Bären, augenscheinlich Mutter und Kind, geritzt sind und betastete die oben zart gerillte, an der Unter seite gewölbte und vollkommen glatte Oberfläche. Fiel mir, fielen meinen Fingerspitzen deswegen die Sudelbücher ein, unterstützt dabei vom Schatten einer Erinnerung an das Zitat, das ich sofort fand, weil ich wusste, es stand rechts oben auf einer Seite? Ich schließe es nicht aus. Die Suggestivität, die Assoziationskraft des Haptischen ist gewaltig.

Die Schnecke baut ihr Haus nicht, sondern es wächst ihr aus dem Leib. Die Scherbe hatte mich zum Schneckenhaus ge führt. Dies war das Ding, das Bild, das mir fehlte. Was drückt es aus? Einen frommen Wunsch? Oder einfach einen geneti schen Determinismus, unzulässiger und metaphorisch ge mütlicher Weise auf das Schreiben angewandt? Selbstver ständlich gibt es keine Antworten auf diese Fragen, aber die Tauglichkeit eines Bildes erweist sich an der katalytischen Kraft, die es beim Ausloten entwickelt - ein Ausloten, das an der durch das Bild markierten Stelle einsetzt. Das Ganze bleibt natürlich ein hochgradig kontingenter Vorgang, aber die Einfälle, die Einblicke, die er erzeugt, sind produktiv und zielgerichtet. Am Ende dieses Prozesses steht die Emanzipa tion des Textes.

Schreiben ist ein metabolischer Vorgang. Die Produkte des Stoffwechsels lassen sich nicht mehr kausal zurückbeziehen auf die Zutaten, die Stoffe, die Gewürze und Reize, die der Einverleibung vorausgingen.

Reize, in Form von Figuren und von Schauplätzen, von Lek türen, Lieben, Niederlagen und Grübeleien führen ein langes, latentes Eigenleben, bevor sie virulent, schließlich evident werden und dann in schöner Unabhängigkeit, formaler Eigensinnigkeit und Fremdheit sich zu einem Gebilde abson dern, das, gleich dem Haus der Schnecke, gewachsen ist und doch gebaut. Das Haus der Schnecke ist, über das Haussein hinaus die Sichtbarwerdung eines Potentials, die sinnliche Formwerdung einer innewohnenden Ordnung und Gestal tung, die Organisation eines fremden und doch eigenen Materials. Das Studium der Schnecke offenbart wenig oder nichts über ihr Haus und dessen Material, es "folgt" nicht aus ihr - im Gegenteil, ein ungleicheres Paar läßt sich wohl kaum denken.

Warum ist das Bild so zwingend, dennoch? Ich glaube, es hat mit der Notwendigkeit zu tun, mit der die Errichtung des Hauses geschieht. Notwendigkeiten hinterfragt man nicht, Notwendigkeiten bezweifelt man nicht. Das Wachsen des Hauses aus der Schnecke entspricht dem Schreibvorgang der Evokation, des Hervorholens und Hervorrufens von Vorhan denem Gelagertem, Einverleibtem, das noch ohne Ausdruck, sprachlos oder spracharm im Verborgenen als Potential haust. Unter Einwirkung von Vorstellungskraft, Gestaltungs lust und Neugier, vergleichbar dem Licht bei der Photosyn these wird aus dem Anorganischen, Blassen etwas sinnlich Erfassbares, und - entscheidend - Vitales. Es ist genau diese radikale Verwandlung, die das zu Sprache, zu Geschichte, Klang und Rhythmus Geronnene in seiner ästhetischen Ver äußerung erfährt, die seine Rechtfertigung ausmacht. Wäre es schlicht aus einem Recycling hervorgegangen, es wäre nur die Multiplikation, nicht die Potenzierung und Transformation des Ausgangsstoffes. Deshalb ist die Frage nach der Autobio graphizität (eine Frage, die oft unterstellt, allein biographisch Erfahrbares erzeuge Authentizität) so obsolet: Ein Roman, ein Gedicht, eine Geschichte ist eben nicht die Summe seiner, ihrer Zutaten, sondern eine Verbundung von Stoff und Spra che, die nicht reversibel ist, nicht herleitbar, vom Augenblick ihres Eintretens gewissermaßen monolithisch ist.

Der Text ist da wie das Schneckenhaus, er hat eine Gestalt, eine Struktur, eine (nachvollziehbare) Genese und einen Zweck, aber keine Erklärung. Er wird verstanden. Und so ist Schreiben nichts als die Antizipation und die Materialisation eines Verstehens, von dessen Gegenstand und Notwendig keit man bis zum Zeitpunkt seines beglückenden Eintretens nichts wusste. Es geht also nicht um Antworten auf gärende Fragen oder neu gestellte Fragen. Das, was einen Roman, eine Erzählung, ein Gedicht ausmachen, das, woran sich ihre Ge lingen misst, gab es vorher nicht zu verstehen. Dieses Verstehen, dieses Erlebnis, dieses Staunen teilen Leser und Autor.

2. Lecture

Unter dem Titel "Helden der Trainigslehre" wird die Kletterin Marietta Uhden in der Süddeutschen Zeitung gefragt: "Wie prägen Sie sich ihre Kletterrouten ein?"

Sie antwortet: "Das ist eigentlich auch ein Training, die Franzosen nennen es,lecture'. Man muß die Route lesen ler nen. [...] Beim Klettern, anders als beim Tennis oder so, kann man sich keinen Fehler erlauben. Entweder man verschwen det unheimlich viel Kraft oder fällt gleich von der Wand."

Ich fand diese knappe Erläuterung berückend einleuch tend, und ersetze auf der Stelle "klettern" durch "schreiben". Das, was so prekär ist, das was gelingen muss und große Kor rekturen (ich spreche natürlich nicht vom absolut notwen digen Redigieren) nicht erlaubt, ist im Grunde die Erstellung einer Kongruenz von Route - dem virtuellen, dem latenten, dem ungeschriebenen Text - und tatsächlicher Bezwingung des Felsens bzw. Formung eines Materials - beides ja nichts anderes als die Aneignung einer unbearbeiteten Gestalt.

"Lecture" wäre der Teil des Schreibens, der aus Nichtschrei ben besteht, ohne den es zum Geschriebenen nicht käme und der, steht einmal das Geschriebene fest und sich als abwei chend heraus, die ideale Route auch nicht mehr preisgibt. Mit anderen Worten: Es gibt keine Umwege zum Text, es gibt nur einen Weg und dieser ist immer schon intrinsischer Teil der Textgestalt.

Der mentalen Antizipation der Gestaltung muss also das Kunststück gelingen, zwei Dinge zur Deckung zu bringen, von denen es das eine strenggenommen gar nicht und das andere noch nicht gibt. Fest steht allein das Material, das schreibend bezwungen, geformt werden soll - allerdings offenbart sich auch dessen Gepräge erst, wenn der einge schlagene (Sprach )kurs es einleuchtend macht.

Ganz wie die Vorsprünge im Fels prägt das Schreiben die Sprache und wird seinerseits von ihr geprägt: Die Entschei dungen über die Eingriffe sind von Struktur und Beschaffen heit ebenso abhängig wie von der Einschatzung der eigenen Mittel: Behend? Waghalsig? Auf Sicherheit bedacht? Jede Kletterpartie, jede Schreibtour verlangt Abenteuerlust, Hin gabe, Planung und Konzentration. Die Auseinandersetzung mit Sprache, wie sie sich im Schreiben vollzieht, ist kein dikta torischer Vorgang, sondern ein dialogischer - die Vorweg nahme des Gipfels, die Grundfiktion, wird gewissermaßen besprochen und ausgehandelt.

Je glatter die Felswand, desto größer die Herausforderung. Es sind winzig kleine Narben, die vorangegangene Kletterer ge lassen haben, und man selbst fügt neue hinzu, wiederum An halte. So auch mit der Sprache: Schreibend kämpft man gegen ihre Hermetik (was nicht notwendigerweise Unzugänglichkeit bedeutet; es kann sich auch um das genaue Gegenteil, Zugäng lichkeit, Konfektion, handeln, sucht nach dem einen Wort, das das folgende notwendig macht und so fort. Die Kontur der Schrift folgt der des Felsens, aber diese wird erst sichtbar durch die Beschreibung. Und die begann als Lesung, "lecture".

3. Ein Traum

Ich träume nicht oft, besser gesagt, ich erinnere mich selten an meine Träume. Wenn überhaupt, behalten sie eine Art atmosphärische Präsenz bis tief in den Tag hinein, kolorieren ihn in pastell oder grell, je nachdem.

Dieser aber blieb, er bestand genau genommen aus nichts als Sprache. Es war der Satz: "Wer Beute machen will jagt oder legt sich auf die Lauer.

Als ich aufwachte,.lag er mir auf der Zunge. Und seitdem ist er die bündige Zusammenfassung einer Überlegung, die sich mit der Frage nach den unterschied lichen Schreibtemperamenten auseinandersetzt. Und wie alle Synthesen, die etwas taugen, verkürzt auch diese ein komple xes und unüberschaubares Gebilde zu einem handlichen, vielmehr handhabbaren Format. Ich gehöre zu denen, die lauern. Zum erfolgreichen Auflauern der Beute gehört selbstverständlich eine gute Tarnung. Die wiederum setzt voraus, dass man sich möglichst wenig von seiner Umgebung abhebt. Meine Umgebung ist, nein, meine Teilnahme gehört dem Alltäglichen, dem Unpolierten, dem Unspektakulären. Tarnung ist ja keine Verkleidung, sondern Nähe, emphatische Nähe sogar. Die stellt sich ohne aufwendige Vorarbeit ein: Es reicht, Ohren und Augen offen zuhalten. Hinter jedem unscheinbaren Satz, hinter jedem grauen Verputz, hinter jedem müden Blick der Kassiererin könnte eine schimmernde Erzader liegen, die, wie eine Lunte, zum Sprengsatz führt. Keine fatale Explosion folgt, nur ein wahrer Satz. (Und der hat natürlich Sprengkraft. Der Zu stand des Lauerns gleicht rein äußerlich dem der Kontempla tion, ist aber, in Wirklichkeit, ein langer Moment höchster Anspannung, in dem sich Selbstvergessenheit und Selbstbe wusstheit im völligem Gleichgewicht befinden müssen. Über wiegt erstere, wird man wahllos hinsichtlich der Beute, über wiegt letzteres, wird man blind für sie. Dasselbe lässt sich natürlich über die Liebe sagen, vielleicht spielt sie deswegen den basso continuo im Konzert der Literatur.

Was sich so, nach langem Warten und geschärftem, ge wetztem Blick und Gehör einstellt, wird umarmt, einverleibt, verschlungen: "Corpus/corpse2.

Die Jäger gehen ganz anders vor; sie konzipieren die Beute, sie arbeiten mit plots und Vorsätzen, sie strukturieren die Jagd. Es sind Rechercheure, Tatsachenfanatiker, ihr Glück liegt in der Bewegung. Der Wert der Beute steigt mit dem Schwierigkeitsgrad ihrer Eroberung - lange Reisen, schwer zugängliche Archive, dünne Dokumentation. Der Reiz des Nicht Vertrauten, des bevorstehenden Aneignens löst die Zunge, man spricht plötzlich mit vielen Zungen; man gestal tet Fremdheit, man erobert Land mit unbekannten Spuren. Man hat sich die Beute als Fremdkörper ausgesucht, den man nun, in einer Textverarbeitung, die es lange vor der elektroni schen gab, einheimisch macht.

Im Fall des Lauerns vergeht die Zeit, im Fall des Jagens wird sie ausgegeben.

Am Ende jeder Geschichte steht, unbestreitbar, der full stop - das schönste amerikanische Satzzeichen.

Davon will ich, davon werde ich noch träumen.