Geschichten und Geschichte einer Insel

Raoul Schrotts Roman des menschlichen Begehrens: "Tristan da Cunha"

Von Katrin SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht das erste Mal, dass der Autor einen Landvermesser verschwinden lässt. Bereits in seinem Erstling "Finis Terrae" erzählte Raoul Schrott von einem, der einer Insel die Geographie beibringen will, ein paar Spuren dort hinterlässt, selbst jedoch nie mehr aufgefunden wird.

In "Finis Terrae" war dies nur ein schmales Kapitel von vieren. Das Bild der Insel scheint Schrott nicht in Ruhe gelassen haben - sein neuestes Werk dreht sich um eine einzige. Damals die Insel im Rudolfsee, nun Tristan da Cunha, die jener Landvermesser Christian Reval als "leere Stelle zwischen den Welten" beschreibt. Tatsächlich: Tristan da Cunha ist das Stück Erde, das von allen anderen bewohnten Teilen dieser Welt am weitesten entfernt ist. Beste Voraussetzungen also für eine Utopie. Vor allem aber für Raoul Schrotts einzigartige Schöpfungsgeschichten, Begehrensschreibweisen und Naturwissenschaftspoesien.

Christian Revals Tagebuch ist eines von drei Büchern eines Pakets, das an den falschen Adressaten gerät - oder vielleicht genau an den richtigen: die Leserin. Eigentlich war es für Tristan da Cunha bestimmt, für die dortige Bibliothek, nun geht es zusammen mit der Naturwissenschaftlerin Noomi Morholt von Bord und gelangt mit ihr auf eine Forschungsstation in der Antarktis. "Stelle ich das alles nicht ins Bibliotheksregal, werden die einzelnen Sachen bis zum nächsten Jahr feucht und gehen kaputt." So schlicht begründen sich Lektüren.

Und durch ihre Lektüren bekommen auch wir die drei Männer zu hören: jenen Reval, dessen Tagebuch seltsamerweise rückwärts läuft, also nicht auf sein Verstummen hin erzählt, sondern vielmehr davon ausgehend, kriminalistisch gleichsam; zum zweiten die Briefe des Priesters Edwin Heron Dodgson, der seinem Bruder Lewis Carrol (dem Alice-in-Wonderland-Carrol) von seiner Versuchung namens Marah erzählt, der er nicht widerstehen kann; schließlich Mark Thomsen, der im Postkartenformat eine Geschichte der Insel anhand ihrer Briefmarken, die der dortigen Familien in den Motiven der "Göttlichen Komödie" erzählt. Und irgendwie doch nur seine eigene Geschichte darin findet, von sich redet und jener Frau, die ihn verlassen hat: Marah.

Jeder der Männer liebt eine andere Marah: Meerfrau, Mutter und Maria, das unbekannte Wesen, das sich nie vermessen, stets nur vermissen lässt. Noomi Morholts zweiter Name ist Marah. So nennt sie ihr E-Mail-Freund Rui, der gerade ein Buch über Tristan da Cunha schreibt und bei dessen Äußerungen man unweigerlich an den Autor selbst denken muss: "Literatur liegt für mich im Versuch, für archetypische Situationen und Emotionen die eine passende und allumfassende Formulierung zu finden, die rechten Worte und die richtigen Sätze - darin besteht ihre Formelhaftigkeit, schon seit Homers epischen Zeiten. Ich halte mir eher auf die Konstruktion etwas zugute." Das allerdings ist zu bescheiden.

Sicher, die Grenzen, die Raoul Schrott in seinen Büchern immer wieder zu ziehen und zu überschreiten sucht, sind altbekannte. Weil kein Wort jemals dem Ding gerecht werden will und gerade deshalb im Schreiben immer wieder ein nicht enden könnendes Begehren danach erzeugt. Es ist die Metapher, die nach Raoul Schrott in diesem Zwischenraum von Buchstaben und Realia stattfindet, ihn ebenso überbrückt wie sie ihn offen und unschließbar hält. Und sich so aus der Sprache hinaus ins Unsagbare der Natur wagt. Sich dem Rauschen des Windes, dem wortlosen Meer nähert. Umgekehrt erscheinen dabei all die festgestanzten Begriffe unserer Rede selbst als Metaphern. All unsere Fakten sind menschliche Fiktionen. Und was für ein Glück das für einen Dichter sein kann, das liest man in jedem Wort des Romans. Bei Raoul Schrott wird naturwissenschaftliche Fachsprache immer wieder zu purer Poesie, melodiös wie ein schrecklich melancholisches Gedicht: "Die Sonne am Green Hill beim Untergehen; ihr Rot auf den Bohlen des Steges. Cirrocumuli, aneinandergereiht wie Schrägstriche".

Raoul Schrott hat sie sich genau angesehen, all unsere Techniken und Raster des Weltverstehens, des Einzirkelns und Festschreibens. Des Benennens und Eingravierens. Spielt sie durch, unsere Begehren, gibt sich ihnen hin, zeigt ihre Ränder und ihre Abgründe auf. Briefmarkensammeln und Kartographieren sind seine Varianten der Metaphysik nach dem Tod Gottes. Und die vielen verschiedenen Kommunikationen ein modernes Abbild des Rufs nach einem Schöpfer: "Das Funken unterscheidet sich kaum von einem Gebet. Es ist die Bitte, gehört zu werden." Bücher zu schreiben gehört mithin auch dazu. Und wenn einer vielstimmig und gleichzeitig so wunderbar intelligent wie beeindruckend naiv von unserem Bild der Welt und ihrer anderen Seite, der Insel der Utopie, erzählen kann, erhören wir ihn gerne, lauschen ihm lange und mit Lust. Auf jeder der über 700 Seiten.

Titelbild

Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
720 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446203559

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