Der Harte und der Zarte

Sie können nicht mit, aber können sie auch "ohne einander"? Zur Beziehung von Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Mit seiner legendär gewordenen Rezension von Martin Walsers zweitem Roman "Halbzeit" schuf Friedrich Sieburg bereits 1960 eine bis heute gebräuchliche Stereotype der Walser-Rezeption. In seinem so originellen wie gnadenlosen Verriss prangerte er die Diskrepanz zwischen Handlungsarmut und Sprachgewalt an, und genau diese Einschätzung wurde von Marcel Reich-Ranicki in seiner nunmehr vier Jahrzehnte umfassenden literarkritischen Begleitung des "wackeren Provokateurs" vom Bodensee geteilt und gepflegt. Die Geschwätzigkeit von "Deutschlands gescheitester Plaudertasche" wird von Reich-Ranicki immer wieder als das große, lästige und langweilende Manko des Autors vorgeführt. Schwatzen, plaudern, plappern, das könne Walser, erzählen jedoch "ums Verrecken" nicht. So sei auch der umfangreiche "Halbzeit"-Roman nichts weiter als eine "imponierende Fingerübung", mit der Walser "verschiedene Ausdrucksmittel" erproben wolle, jedoch keinesfalls ein abgeschlossenes Erzählwerk. Obwohl Reich-Ranicki nicht müde wird, sich in seiner Behandlung des Schriftstellers permanent zu wiederholen und auf dessen mangelndes Erzähltalent hinzuweisen, hat Walser bis heute nicht mit dem Verfassen von Romanen aufgehört - sehr zum Verdruss des Kritikers, der "unmenschlich" zu leiden pflegt, sobald er einen Roman des Autors lesen muss.

Auch Martin Walser muss leiden - unter der Kritik Reich-Ranickis. Man kennt sich aus den Tagen der Gruppe 47: ein hoffnungsvolles, bereits preisgekröntes Schreibtalent trifft auf einen Kritiker, der sich binnen kürzester Zeit einen gefürchteten Namen im Literaturbetrieb machen wird. Offensichtlich hat Reich-Ranicki schon damals einen bleibenden Eindruck bei Martin Walser hinterlassen. In seinem "Brief an einen ganz jungen Autor" (1962) rechnet Walser mit der berüchtigten Spontankritik der Gruppe 47 ab. "Laut und prächtig" reitet Reich-Ranicki in Walsers Darstellung König Drosselbart gleich über den Markt und "zerdeppert" seine "Keramik, aber ohne den Oberton einer spröden, fast preußischen Güte kann er einfach nicht schimpfen."

Dabei findet Reich-Ranicki immer auch lobende Worte für Walser, sofern der sich dem widmet, was er kann: Essays schreiben. Selbst in seinen Romanen seien die reflektierenden, essayistischen Passagen das einzig Gute. Seiner Neigung zur paradoxen Formulierung entsprechend hat Reich-Ranicki das einmal so ausgedrückt: "Seine Essays zeugen von seinem großen erzählerischen Talent. Aber in seinen erzählerischen Werken sind die essayistischen Partien die interessantesten." So hat der Kritiker bereits angekündigt, Walser in seinen Kanon mit Essays aufzunehmen. Ein schwacher Trost für den, der doch lieber in der Königsklasse der epischen Großform reüssieren möchte.

1976 erreicht die von beiden Seiten phasenweise als Freundschaft bezeichnete Beziehung einen vorläufigen Tiefpunkt. Unter der bezeichnenden Überschrift "Jenseits der Literatur" widmet Reich-Ranicki dem Autor seinen bislang schärfsten Verriss überhaupt, der dem Roman "Jenseits der Liebe" gilt. "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Dies ist der Einstieg in eine gnadenlose Abrechnung, die auch auf den politischen Walser, den "Bajazzo der revolutionären Linken" abzielt. Nicht wenige Kollegen haben dem Kritiker angesichts dieser Polemik einen gezielten Vernichtungswillen unterstellt. Nur zwei Jahre später lobt Reich-Ranicki dann den Autor derart überschwänglich, dass es fast schon unheimlich ist. Die Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978) sei Walsers "Glanzstück", sein "reifstes, sein schönstes und bestes Buch". Mit dieser Lobhudelei demonstriert der Kritiker neben seiner Unbestechlichkeit vor allem eines: erst die maßlose Überspitzung seines Urteils zu "Jenseits der Liebe" hat den talentierten, aber permanent scheiternden Autor zur Produktion seines Meisterwerks angespornt. Ohne Reich-Ranicki kein Walser'sches "Glanzstück".

Martin Walsers Schreiben folgt einer psychoanalytischen, selbsttherapeutischen Poetologie. Nur der Unbefriedigte, der einen Mangel erleidende - Walser spricht vom Autor als grundsätzlich beschädigtem Ich - ist zum Schreiben fähig und kann dadurch mit der Mangelerfahrung zu Rande kommen. Dass Walser die als unerträglich empfundene Machtausübung des unfehlbaren Großkritikers literarisch umsetzt, ist daher nur konsequent. Er hat dies bereits weit vor "Tod eines Kritikers" getan, und zwar gar nicht zum Missfallen des Rezensenten. In zwei Erzählungen tritt Reich-Ranicki als glatzköpfiger Inspektor auf, der jene Dingfest macht, deren Verbrechen Kunstwerke sind. Diese frühen Literarisierungen seiner Person goutiert Reich-Ranicki; die Erzählung "Selbstporträt als Kriminalroman" nahm er gar in seine Anthologie "Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts" auf. Wer könnte es ihm auch verübeln? Welcher Kritiker kann schon von sich behaupten, einen derartig nachhaltigen Eindruck bei einem Autor hinterlassen zu haben, dass dieser ihm postwendend gleich mehrere literarische Denkmäler gewidmet hätte?

"Walser ist kein Erzähler, ich glaube es nicht. Er kann Romane ums Verrecken nicht schreiben", lautete die apodiktische Verurteilung des Autors im "Literarischen Quartett" anlässlich der Besprechung des Romans "Ohne einander" (1993), also jenes Romans, in dem die Vorläufer-Figur zu André Ehrl-König aus "Tod eines Kritikers" zum ersten Mal auftaucht. Dieses Buch ist wie viele andere Walser-Titel als Vorabdruck in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienen, unter der Verantwortung von Frank Schirrmacher, dem damaligen Literaturchef, der Reich-Ranicki den Roman auch zur Besprechung überließ. Walsers Schilderung des Kritikers Willi André König, genannt Erlkönig, ist wenig schmeichelhaft und entlarvt einige der typischen Beurteilungsfloskeln Reich-Ranickis. Doch König, der populäre Kritiker eines "Meinungsmagazins", nimmt keine allzu große Rolle im Romangeschehen ein. Mit André Ehrl-König hat er neben seiner negativen Charakterisierung die nur als Gerücht existierende jüdische Herkunft gemein. Als der Herausgeber des Magazins den Verriss des Buchs eines jüdischen Autors über jüdische Mafia-Verstrickungen verhindern will, weil er nicht unter den "scheußlichsten aller Verdächte", den des Antisemitismus geraten will, reißt König mit dem Hinweis auf seine vermeintlich jüdische Großmutter die Besprechung doch noch an sich: wer jüdischer Herkunft ist, kann kein Antisemit sein, selbst wenn er das Buch eines jüdischen Schriftstellers verreißt. Walser liefert mit dieser Episode ein literarisches Beispiel für die später in seiner Frankfurter Paulskirchenrede inkriminierte Instrumentalisierung des Holocaust zu gegenwärtigen Zwecken, freilich ohne dass sich ein Kritiker, auch der parodierte Reich-Ranicki nicht, über diesen Umstand echauffiert hätte. Reich-Ranicki ließ dennoch kein gutes Haar am Roman und griff dabei auf seine altbewährte Argumentation zurück; da half es auch nichts, dass ihm der Autor ein weiteres Denkmal gesetzt hatte.

Die Beziehung zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki ist die Beschreibung eines Kampfes, der aus Sicht des Autors mit ungleichen Mitteln geführt wird. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" entblödete sich Walser nicht, das Verhältnis zwischen Reich-Ranicki und den von ihm beurteilten Autoren in einer völlig inadäquaten Täter-Opfer-Allegorie zu dramatisieren: "Die Autoren sind die Opfer, und er ist der Täter. Jeder Autor, den er so behandelt, könnte sagen: 'Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude'". ("Süddeutsche Zeitung" vom 20.09.1998) Diesen Vergleich, der übrigens ein weiteres Beispiel für die von Walser kritisierte Instrumentalisierung ist, hat der Kritiker dem Autor nicht krumm genommen. Nach dessen umstrittener Paulskirchenrede von 1998 hat Reich-Ranicki den unter den Verdacht der "geistigen Brandstiftung" geratenen Walser verteidigt und dabei auch dessen gar nicht schönen Fauxpas entschuldigt: "Wollte Walser ein Gleichheitszeichen setzen zwischen der Verurteilung eines Romans und der Vergasung eines Menschen? Nein, das wollte er mit Sicherheit nicht, denn er ist nicht wahnsinnig. Nur ist ihm im Zorn, in der Hitze des Gefechts eine schreckliche und letztlich törichte Formulierung entschlüpft." ("Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 2.12.1998) Mit Reich-Ranickis Parteinahme sollte sich die Beziehung der beiden inszenierungsmächtigen Literaturschaffenden keineswegs entspannen. Nicht nur hat Reich-Ranicki dem gescheiterten Romancier mit der Veröffentlichung seiner Autobiographie vorgemacht, wie man einen veritablen, seitenstarken Bestseller produziert, in ihm revidiert er auch noch seine Beurteilung der Walser-Bubis-Debatte. Von Versöhnlichkeit ist im entsprechenden Kapitel von "Mein Leben" keine Spur mehr zu finden, plötzlich fühlt sich der Kritiker von Walsers Paulskirchenrede "tief getroffen und verletzt".

Nein, Pathos ist weder Reich-Ranicki noch Martin Walser fremd. Der eine leidet wahre Tantalusqualen, sobald ihm ein neuer Walser in die Hände gelegt wird, der andere verspürt gar einen "Mangel an Daseinsberechtigung" und muss vor "Kühnheit" zittern, wenn er sich einmal mehr in der gut einstudierten Opferrolle geriert. Doch es bedurfte eines dritten Pathosspezialisten, um das Verhältnis zwischen dem Harten und dem Zarten einer nicht mehr steigerungsfähigen Eskalation zuzuführen. Frank Schirrmacher, der sich mit seiner Zeitung bis dato als dem Autor in großer Loyalität verbunden präsentierte, griff in seinem offenen Brief vom 28. Mai letzten Jahres derart tief in die Pathosschatulle, dass es selbst einem "Titanic"-Redakteur schwer fallen dürfte, dies realsatirisch zu überbieten. Die Walser'sche "Freiheit", einen Überlebenden des Holocaust zum Gegenstand einer "Mordphantasie" zu machen, sei "unsere Niederlage", dröhnte es damals abendlandbewahrend. "Verstehen Sie, daß wir hier der verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bereiten werden?" hieß es weiter. Nur: Wer, wenn nicht Schirrmacher höchstselbst, hat denn dem Autor mit der öffentlichen Vorverurteilung das größtmögliche mediale Forum bereitet? Hatte die moralische Entrüstung etwa über Schirrmachers Intelligenz triumphiert und ihn zu Walsers Steigbügelhalter wider Willen gemacht? Reich-Ranicki zeigte sich in seiner wenige Tage später laufenden "Solo"-Sendung sichtlich verletzt von Walsers Buch, und auch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München am 10. Juli 2002 nahm der Kritiker zum Anlass, über die "Verachtung und Angst" zu sprechen, die er neuerdings in Deutschland empfinden müsse. Walsers Roman im "Stürmer"-Ton münde in dem vernichtenden Fazit "Schlagt ihn tot, er ist ein Jude".

Zu diesem Zeitpunkt ist der Skandal um "Tod eines Kritikers" längst von den sich in gegenseitigen moralischen Vorhaltungen überbietenden Redakteuren der "Süddeutschen Zeitung" und der "Frankfurter Allgemeinen" zur inoffiziellen WM (Walser-Meisterschaft) des Feuilletons erklärt worden; in E-Mails wurde mitgeteilt, wer wann welchen Punkt in Sachen Walser gemacht hätte. So kolportierte es jedenfalls die Indiskretion eines "Focus"-Artikels (Nr. 24/2002). Aber dies muss man weder wissen noch glauben, um zu erkennen, dass die letztjährige Debatte nichts weiter war als ein äußerst gelungener Mediencoup, ein parallel zur Kausa Möllemann perfekt getimter Hype, dem man mit Fragen nach Moral, Authentizität und Angemessenheit nicht beikommen kann. Die beiden Protagonisten haben mit ihren jahrzehntelang praktizierten Übertreibungen, Überempfindlichkeiten, mit ihren plötzlichen Positions- und Meinungswechseln nicht nur gegenseitiges Vertrauen verspielt. Hatte nicht Walser noch im Februar 2002 der "Bunten" mitgeteilt, sein nächstes Buch werde einen Skandal auslösen? Wie verträgt sich diese Ankündigung mit der Unschuldspose, mit der Walser auf Schirrmachers Vorwürfe überrascht und entsetzt reagierte? Und bei allem Respekt: wer in buchstäblich jeder Folge des "Literarischen Quartetts" angesichts der miserablen Literatur eine schmerzverzerrte Leidensmine aufsetzt, für die ihm jederzeit die Hauptrolle bei den Oberammergauer Passionsspielen sicher gewesen wäre, kann kaum noch erwarten, dass man an ihm gespielte von echter Empörung unterscheiden kann.

Existiert diese Beziehung heute noch? Wird es noch weitere Episoden dieser manchmal unappetitlichen, jedoch immer unterhaltsamen Kabbelei geben? Man muss es abwarten, am besten bei einem Glas guten Rotweines, dem Walser laut Reich-Ranicki ja gerne zuspricht. Bis dahin gilt wohl, was Martin Walser seinem schärfsten Kritiker anlässlich dessen 65. Geburtstages ins Stammbuch geschrieben hat: "Clowns sind wir, der Zirkus heißt Kultur,/ Unsre Nummer: Watschen mit Gesang. / Streicheln dürfen wir uns nur/ Draußen in dem dunklen Gang."