Noch einmal Goethe

Marcel Reich-Ranickis Reden und Anmerkungen über den Klassiker aus Frankfurt

Von Erich WiegandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erich Wiegand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viele Editionen Marcel Reich-Ranickis besteht auch dieser Band aus einer Sammlung von Beiträgen aus unterschiedlichen Anlässen, verfasst zwischen 1979 und 2002 als Zeitungsartikel, Vorwort oder Rede, die - mit einer Ausnahme - schon anderswo veröffentlicht wurden und hier erneut erscheinen. Die jüngsten Texte der Sammlung sind die Dankrede, die Reich-Ranicki anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt im August 2002 gehalten hat und ein knapp sechsseitiger Aufsatz mit dem Titel "Die weite Welt war seine Sache nicht", gekennzeichnet als "Originalbeitrag", eigens für diese Edition geschrieben. Am Schluss steht ein Abschnitt "Interpretationen" mit drei von Reich-Ranicki verfassten Betrachtungen zu Goethe-Gedichten, die aus der "Frankfurter Anthologie" entnommen und dort 1981, 1990 und 1999 erschienen sind.

Im "Vorwort" zeigt der Herausgeber den thematischen roten Faden auf, der alle Beiträge verbindet: "Alles, was ich in meinem langen Leben zu dem doch gewaltigen Thema verfaßt habe, ist in diesem bescheidenen Buch enthalten". Und: "Wann immer ich seine Werke las oder auf der Bühne sah, wann immer ich über ihn schrieb - ich war auf der Suche nach Goethe. So könnte auch diese Sammlung betitelt sein". Weil es um dieses Thema geht, sind manche Beiträge stark gekürzt worden, reduziert auf jene Textpassagen, die sich mit Goethe befassen.

Im Abschnitt "Bewundert, doch nicht geliebt" (1979) schildert der Autor die Ambivalenz der deutschen Goethe-Rezeption, die sich mit einer Schilleranleihe bezeichnen lässt: "Von der Parteien Haß und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Von Gleichgültigkeit und Widerstand gegen Goethe, vor allem bei der Jugend, ist die Rede, dann aber auch vom Wandel des Goethe-Bildes durch die "Faust"-Dichtung literaturhistorische Reminizenz, die eine zentrale Figur der nationalen deutschen Identität wird, dennoch zugleich Abneigung gegen Goethe aufkommen lässt, gegen seinen Charakter, sein Weltbild, seinen Mangel an Nationalbewusstsein, an Patriotismus und Christentum.

Goethes harter Geschäftssinn im Aushandeln von Honoraren und sonstigen Verlagsleistungen werden am Beispiel seines Umgangs mit Cotta dargestellt. Die Geringschätzung, ja Verachtung des Publikums, ja, die Verachtung der Leser durch Goethe finden Erwähnung. Belegt wird das mit einer Äußerung Goethes über seine Landsleute: "Sie mögen mich nicht! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen nie recht zu Danke gemacht".

In "Der Verächter der Kritik" (1984) geht es um Goethes gespanntes Verhältnis zu seinen Kritikern. Er hatte, so Reich-Ranicki, Angst vor ihnen, und mehr als einmal verhinderte und unterdrückte der Weimarer Dichter und Staatsminister die Veröffentlichung von Kritiken, wenn er zuvor davon Kenntnis hatte, teilweise mit erpresserischen Methoden unter Ausnutzung seiner Stellung am Weimarer Hofe. Seine Einstellung zu Kritikern gipfelt in seinem bekannten Gedicht, das mit dem Aufruf endet: "Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent."

Obwohl Reich-Ranicki dieses Gedicht an anderer Stelle "das dümmste, das seiner Feder entstammt" nennt, nimmt er dennoch den Verächter der Kritik in anrührender Weise in Schutz: "Goethe war unter allen großen Deutschen der menschlichste - menschlich in seiner Sehnsucht nach Liebe und Frauen, menschlich in seiner Angst vor Kritik [...]. Thomas Mann sprach in diesem Zusammenhang von Goethes Schwachheit und fügte, verständnisvoll und nicht ohne Zufriedenheit, hinzu: "Er ist sehr groß, aber er ist wie wir alle."

"Unser kostbarster Schatz" (1992) ist, am Schluss leicht gekürzt, das Vorwort der Edition "Goethe. Verweile doch. 111 Gedichte mit Interpretationen". Der Text verdeutlicht die hohe Wertschätzung des Autors gegenüber Goethes Lyrik. Auf die fiktive Interviewfrage nach dem einen Buch, das man auf eine einsame Insel mitnehmen möchte, lautet die Antwort: Goethes gesammelte Gedichte. Das wird begründet: "Von allen Schätzen der deutschen Dichtung sind sie der kostbarste. [...] Keinen gibt es, der so viele Gedichte geschrieben hätte, die bis heute lebendig, mehr noch: die herrlich sind wie am ersten Tag, keinen, dessen Poesie zarter, geistreicher, farbenprächtiger und vielseitiger wäre, nachdenklicher und temperamentvoller. [...] Seine Lyrik ist eine Fundgrube, in der sich mehr verbirgt, als wir uns vorstellen können."

"Der Platz neben der Herzogin" (1992) ist ein Auszug aus der Dankrede, die Marcel Reich-Ranicki anlässlich der Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille durch die Hessische Landesregierung1992 hielt. Ort dieser Veranstaltung war Schloss Biebrich in Wiesbaden. Da ließ sich der Preisträger und Goethe-Kenner eine literaturhistorische Reminiszenz natürlich nicht entgehen. Denn in eben diesem Saal des Schlosses saß Goethe am 8. August 1814 auf dem Ehrenplatz neben der Herzogin von Nassau, von Herzog Friedrich August eingeladen zur vorgezogenen Feier seines 65. Geburtstages. Darüber berichtete Goethe seiner Frau Christiane in einem Brief, in dem er auch Details der kulinarischen Genüsse an der Festtafel schilderte. Außerdem freute sich der Dichter über die Verleihung eines kaiserlichen Ordens und schrieb sogleich seinem Sohn August nach Weimar, er möge Tuch und Stickerei zu einem neuen Rock besorgen, denn: "zum Geburtstag des guten Großherzogs wollen wir uns herausputzen".

Aber, so der Preisredner, "Goethe hat in Wiesbaden auch gearbeitet". Hier schrieb er eines seiner berühmtesten Gedichte für den "West-Östlichen Divan", dessen fünfte Strophe den poetischen Höhepunkt bildet: "Und solang du das nicht hast / Dieses: Stirb und Werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde."

So entsteht vor unseren Augen wieder einmal ein facettenreiches Bild des Weimarer Dichterfürsten. Wir erblicken Goethe, den Genussmenschen, Goethe, den Eitlen, der sich über Orden freut, und Goethe, den inmitten zahlreicher Empfänge und Gesellschaften unermüdlich arbeitenden Poeten.

Reich-Ranicki gesteht freimütig, und es sei ihm ohne Einschränkung gegönnt, wie sehr er es genießt, in so guter Gesellschaft mit Goethe zu sein: "daß es mich außerordentlich ehrt, gerade in dem Saal ausgezeichnet zu werden, in dem er frische Mandeln und Maulbeeren genossen hat und in dem er glücklich war, neben der Herzogin sitzen zu dürfen".

"Deutschstunde für ganz Europa" ist der Teilabdruck einer Rede Reich-Ranickis zur Verleihung des Goethe-Preises an Siegfried Lenz am 28. August 1999 überschrieben. Zwar stellt der Laudator mit dieser Formulierung schon einen Bezug zum Werk von Lenz her. Der Leser, der die vollständige Rede nicht kennt, erfährt aber nichts darüber, welche Verknüpfung die ausgedehnten Passagen über Goethe mit dem Gegenwartsschriftsteller Lenz und seinem Werk haben. Über Goethe lesen wir, dass ihm nicht selten Irrtümer und Missverständnisse im Urteil über andere Dichter unterlaufen sind, z. B. über Shakespeare. Die Ursache dafür liege darin, daß Goethe zu sehr Dichter gewesen sei, um Kunstkenner zu sein. Dennoch wird dem Weimarer Poeten auch hohes Lob zuteil: "Sein Werk besteht aus Bruchstücken einer Deutschstunde für ganz Europa". Goethe also, zwar kein Weltbürger, aber ein "Europäer". Dieses Urteil wird untermauert durch einen brillanten Vergleich Goethes mit Heinrich Heine: "Dieser war Europäer der Not gehorchend, jener aus eigenem Willen und Antrieb. Der Jude aus Düsseldorf wählte sich die prunkvolle Hauptstadt Frankreichs, einen Wallfahrtsort der Künstler, zu seinem Asyl. Der Protestant aus Frankfurt machte hingegen aus seinem fürstlichen Asyl, einer winzigen und verschlafenen Residenzstadt, einen Wallfahrtsort der europäischen Intellektuellen".

Das ist ein Beispiel der großen Fähigkeit Reich-Ranickis, mit knapp und scharf formulierten antithetischen Sentenzen Schlaglichter zu setzen, die dem Leser zu einem vertieften Verständnis komplexer Zusammenhänge verhelfen. Und darauf muss man erst einmal kommen, Goethes gigantisches Werk in vier Worten zusammenzufassen: Deutschstunde für ganz Europa.

Der als Originalbeitrag bezeichnete Text "Die weite Welt war seine Sache nicht" befasst sich mit Goethes Einstellung zum Reisen. Die sei von Skepsis gegenüber dem Sinn des Reisens geprägt gewesen. Er sei in seiner "inneren Welt" zuhause gewesen und habe befürchtet, daß diese ihm durch äußere Eindrücke eher getrübt werden könne, außerdem habe er die Welt ständig durch viele Besucher zu Gast gehabt. Seine eigentlichen Lebenspole seien seine Geburtsstadt Frankfurt und seine Wahlheimat Weimar gewesen. Das werde auch nicht widerlegt durch die Auslandsreisen in die Schweiz, nach Italien und den kriegsbedingten Ausflug nach Frankreich und schon gar nicht durch die innerdeutschen Reisen. Das, so das Fazit des Autors, zeuge nicht unbedingt von einem ihm oft nachgerühmten Weltbürgertum, im Gegenteil: "Es läßt eher erkennen, daß sein Charakterbild von einem Zug ins Provinzielle nicht ganz frei war". Reich-Ranickis These wird noch mit einem Zitat aus Italien belegt ("Italienische Reise"): "Ich betrachte mit Erstaunen, wie man reisen kann, ohne etwas außer sich gewahr zu werden." Die Verwendung dieses Zitates ist allerdings fehlerhaft. Denn Goethes Eintrag im italienischen Reisetagebuch vom 11. Oktober 1786 in Venedig bezieht sich auf einen französischen Mitreisenden und dessen Einstellung zum Reisen: "Es war mir köstlich, einen recht eingefleischten Versailler in der Fremde zu sehen. Der reist nun auch! Und ich betrachte mit Erstaunen, wie man reisen kann, ohne etwas außer sich gewahr zu werden, und er ist in seiner Art ein recht gebildeter, wackrer, ordentlicher Mann." Hier ist eindeutig die Einstellung des Franzosen wiedergegeben. Ob Goethe diese teilte, ist so jedenfalls nicht zu belegen.

Versehen mit der Überschrift "Die Literatur ist ein Spiel - wie die Liebe" ist die Dankrede Reich-Ranickis anlässlich des Goethe-Preises in die Edition aufgenommen worden. Die Rede bietet hinreichend Anlass zu einer eigenen, nur ihr gewidmeten kritischen Betrachtung, worauf jedoch hier verzichtet werden soll. Es bleibt aber die Frage nach dem Grund, der Reich-Ranicki bewogen haben mag, den Band "Goethe noch einmal" herauszugeben.

Seine eigene Begründung, er erfülle damit ein Versprechen gegenüber einem befreundeten polnischen Schriftsteller, erscheint wenig glaubhaft. Denn das Gespräch mit dem polnischen Freund über Goethe, von dem Reich-Ranicki im Abschnitt "Der Platz neben der Herzogin" erzählt, endete ohne ein solches Versprechen. Erst auf der Rückseite des Bucheinbandes steht eine erweiterte Fassung "ich werde ein kleines Buch über ihn machen [...] und ich werde es betiteln ,Goethe noch einmal'."

Selbst wenn man das gelten lässt, bleibt die Frage nach einem weiteren möglichen Grund. Auffällig ist der kurze Zeitabstand zwischen der Preis-Dankrede am 28. August 2002 und dem Erscheinen von "Goethe noch einmal" im November 2002. Das Bändchen ist offensichtlich unter großem Zeitdruck produziert worden. In dem vom Rezensenten im Buchhandel gekauften Exemplar sind im Inhaltsverzeichnis die Seitenzahlen 101 und 121 vertauscht. Verschmutzungen durch Druckfarbe finden sich auf den Seiten 34, 41, 42 und 43 - eigentlich kaum zu glauben, dass die so renommierte Deutsche Verlags-Anstalt ein solches Exemplar ausliefert. So kommt die Vermutung auf, dass Reich-Ranicki, sei es durch externe Kritik und/oder durch eigene Einsicht, die offenkundigen Schwächen seiner Frankfurter Rede erkannt hat und das durch die nachgeschobene Edition "Goethe noch einmal" ausgleichen wollte, wobei er vermutlich den Verlag zu größter Eile antrieb, woraus sich die fehlerhafte Produktion erklären ließe. Zugegeben, das riecht etwas nach spekulativer Mäkelei des Rezensenten, der aber seine Erwägungen trotz des Wissens um einen solchen möglichen Verdacht nicht unterdrücken wollte.

Über die inhaltliche Qualität des Bandes ist damit noch nichts gesagt. Es ist keine Frage, - unbeschadet einiger kritikwürdiger Einzelheiten -, dass diese Lektüre zu Goethe durchaus gewinnbringend ist. Denn der Autor hat es verstanden, viele Facetten der Persönlichkeit und des Werkes Goethes einer oft verblüffenden, weil bis dahin so nicht gekannten Betrachtung zu unterziehen und so unser Goethe-Bild reicher und vollständiger zu machen. Man weiß mehr über den Olympier, wenn man dieses Buch gelesen hat.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Goethe noch einmal. Reden und Anmerkungen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
144 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3421056900

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